Irland Wahlheimat

Heimweg

Die Reise zum Selbst. Wir leben seit 17 Jahren an der dünn besiedelten Südwestküste Irlands am Nordatlantik. Wahlheimat Irland. Im Frühjahr 2000 zogen wir von München, unserem letzten Wohnort in Deutschland, an den westlichen Rand Europas. Ich werde oft gefragt, warum wir ausgewandert seien. Die korrekte Antwort hätte lange eine vorläufige sein müssen: Das frage ich mich auch. Denn oft erschließt sich uns der tiefe Sinn unserer Handlungen erst mit dem Abstand von ein paar Jahren. Ich hatte immer nach bestem Wissen geantwortet, wir seien unserem Wunsch gefolgt, in intakter Natur zu leben und deshalb an den irischen Atlantik umgezogen. Die tiefe Bedeutung des eigenen Satzes verstehe ich allerdings erst seit kurzem.

Am Anfang der Reise standen großes Unbehagen und ein Wunsch. Kennen sie das Gefühl, dass es einem oberflächlich betrachtet, vor allem materiell, sehr gut geht und man doch genau weiß: Es ist nichts in Ordnung. Dass man allerdings nicht genau weiß, was denn nicht in Ordnung ist. Das Gefühl, dass das eigene Lebensmodell in eine Krise geraten ist.

Am Anfang der Reise stand der Wunsch, in einer Landschaft zu leben, in der die Natur den Lebenstakt vorgibt, in der Pflanzen und Tiere und die vier Elemente dominieren und in der der Mensch die Natur noch nicht an den Rand und in Nischen verdrängt hat. Und jede Menge Unbehagen, gepaart mit einigen Erkenntnissen:

  • Die Einsicht, dass mehr Geld und mehr Status nicht mehr Lebensqualität versprechen. Sie war das Ende des Karrieredenkens.
  • Das Leiden an der täglich fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, an der bedenkenlosen rücksichtlosen Verwandlung von Natur in profitträchtiges Kapital. Wie beispielsweise die Schäferweise vor unserem Haus binnen Monaten verschwand und vorläufig als verdichtetes Wohngebiet namens Schäferwiese endete. Dieser “Fort-Schritt” warf einen dunklen Schatten auf mein Lebensgefühl.
  • Das Misstrauen in die Segnungen der wachstums-getriebenen Wirtschaft und des konsum-getriebenen Lebensstils. Die schnell verpuffende Wirkung von Frustkäufen am freien Samstag nach einer turbulenten Arbeitswoche. Es drängte die Sinnfrage in den Vordergrund.

Ende Mai 20o0 zogen wir nach vielen Jahren deutschen Stadtlebens in ein Holzhäuschen am Atlantik. Wir hatten gefunden, ohne zu suchen: Weite Landschaft, Berge, Meer, sogar Wälder. Wenig Entwicklung, wenig Menschen. Wenig Zivilisation, wenig Zerstörung. Ein Idyll? Vielleicht sogar ein alternatives Gartenzwerg-Idyll? Ein Fluchtpunkt? Punktuell, zeitweise. Im Großen und Ganzen: nein. Diese Welt erlaubt es der inneren Natur, sich bewusst in der äußeren Natur zu spiegeln und zu zeigen.

Im 7. Jahrhundert bauten Mönche auf einem schroffen Felsen im Atlantik, zwölf Kilometer vor der einsamen Küste von Kerry, aus Steinhütten ein Kloster. Skellig Michael. Sie wollten Gott so nahe wie möglich sein und sie vermuteten ihn (wussten um ihn) weit abseits von den Menschen, an den unzugänglichsten Orten ihrer Welt. In diesen ersten 17 irischen Jahren fühlte ich mich manchmal an die Skellig-Mönche erinnert. Ich bin zwar im katholisch-protestantischen Sinne nicht gläubig und wir hatten von Beginn an Schutz, ein Dach, Wärme, Wasser, Nahrung und natürlich das Internet: Und doch war ich bei allem materiellen Komfort bewusst zur Suche in eine Umgebung gezogen, die im besten Sinne menschenleer und reizarm ist. Das bestimmt hier bis heute unseren Lebens-Rhythmus:

  • Die weit gehende Abwesenheit von menschen-gemachten Reizen, seien sie optisch, akustisch oder olfaktorisch.
  • Das Fehlen von Konsum-Möglichkeiten. Impuls-Käufe? Fehlanzeige.
  • Direkte Verbindung in der Natur mit der Natur, mit allen Sinnen.
  • Direkte Erfahrung von wirkungsmächtigen Naturereignissen (Orkane, Springfluten, Gezeiten, Dauerregen)
  • Direkte Erfahrung von zivilisatorischer Unterversorgung (tagelanger Stromausfall, Ausfall von Zentralheizung, fließend Wasser, wochnlanger Ausfall von Telefon und Internet, Ausfall von Mobilität, Auto, Busverbindungen)
  • Solitude. Man ist viel mit sich selbst. Sich ausgesetzt. Manchmal sich ausgeliefert.

Und ich such(t)e. Nicht nach einem Gott im herkömmlichen Sinne, aber nach Sinn und Bedeutung, nach Ganz-Sein, nach Teil-des-Ganzen-Sein, nach der Seele der Natur und nach der Natur meiner Seele. Mir war klar, dass unsere ökologischen Krisen und unser ökologisches Versagen die Folgen einer spirituellen Krise des Menschen sind: Wir haben die Verbindung zur Natur verloren. Die in unserer Welt um sich greifenden Zerstörungen korrespondieren mit den Zerstörungen in unserer Seele. Besser: Sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Es gilt deshalb, diese Verbindung zu erneuern, sie zu heilen – und damit uns zu heilen.

Wie aber geht das?  Und was ist das eigentlich, die Natur? Ist Natur, wenn die Sonne scheint und der Himmel blau leuchtet? Antworten in Teil 2. Demnächst hier im Natur-&-Wir-Blog.

 

Foto: Markus Baeuchle

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