Suizid Irland Eine junge irische Frau stirbt im August. Sie tötet sich selbst. Im September erscheint ein Artikel aus ihrer Feder in einer renommierten irischen Zeitung. Im November bricht die Tote Aufmerksamkeits-Rekorde Rekorde bei Twitter und Facebook, im Dezember fällt (kurz) der Strom aus, während ihre trauernde Mutter auf der Bühne steht und für einen guten Zweck singt. Aber der Reihe nach.

Eine junge Frau, Kate Fitzgerald, deren Vater Ire und deren Mutter Amerikanerin ist, arbeitete in Dublin als PR-Frau und engagierte sich als Vorsitzende und Sprecherin der US-Demokraten in Irland. Anlässlich des Besuches von Barack Obama im Mai führte sie zahlreiche Interviews für irische Medien. Hübsch, stylisch, wortgewandt: Sie war ein Musterbeispiel für eine junge Karrierefrau. Gleichzeitig engagierte sich die Fünfundzwanzigjährige mit Worten und Taten für den guten Zweck: Sie schrieb den Blog “Because I am a girl” für den wohltätigen Verein ‘Plan Ireland’, der sich unter anderem für die Rechte von unterprivilegierten Mädchen in aller Welt einsetzt. Kate lief im Juni einen Mini-Marathon um Spenden zu sammeln.

Hinter der schönen Fassade einer anpackenden Perfektionistin türmten sich jedoch dunkle Wolken. Kate litt an Depressionen und hatte bereits einmal versucht, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nach einem Klinikaufenthalt im Juli fällt ihr die Wiedereingliederung ins harte PR-Business nicht leicht. Das deutete sie im Artikel an, den sie am Freitag, den 19. August 2011 unter einem Pseudonym anonym an die Irish Times per E-Mail schickte.

Der Artikel beleuchtete sehr klar den Umgang der anonymen Verfasserin mit ihrer Krankheit und den Druck, den die Depression in der täglichen Zusammenarbeit mit ihrem Arbeitgeber auslöste – ausdrücklich betonend, dass sie ihrer Firma nicht die Schuld an ihrem Missbefinden gibt.

Am darauffolgenden Montag, es ist der 22. August, liest der zuständige Irish-Times-Redakteur Peter Murtagh den Text und kommt der Aufforderung der Schreiberin nach, die Mail zu beantworten, um wie angekündigt, eine Telefonnummer und mehr Details zu erfahren. Man telefoniert kurz miteinander, der Journalist ist beeindruckt von der Normalität und der Klarheit, welche die junge Frau ausstrahlt und er erfährt auch ihre wahre Identität. Schließlich hatte die Zeitung bereits einige Texte von ihr in ihrer Eigenschaft als PR-Frau veröffentlicht. Er bekundete sein Unwohlbefinden, den aktuellen Text anonym zu veröffentlichen, doch er versicherte ihr, er könne in Anbetracht des sensiblen Themas eine Ausnahme machen. Abends schrieb sie ihm eine Dankesmail und bot an, noch mehr zum Thema oder ähnlichen Gebieten beitragen zu können, falls er Interesse habe.

Am Freitag, dem 9. September erschien der Text in der Irish Times, anlässlich des Welt-Suizid-Präventionstages, der seit 2003 jedes Jahr am 10. September von der WHO begangen wird — anonym, wie von Kate gewünscht. Was niemand ahnen konnte und auch dem Redakteur Peter Murtagh war der Zusammenhang offenbar entgangen: Kate war zu dem Zeitpunkt bereits seit drei Wochen tot. Allerdings fielen die Eltern von Kate aus allen Wolken, als sie die Zeitung lasen, denn sie erkannten sowohl die Namen des Pseudonyms als auch den Schreibstil ihrer Tochter. Sie kontaktieren Murtagh und es kam zu einem Treffen. Der Journalist erfährt mehr über das Leben der jungen eloquenten Powerfrau, die sich schon als knapp zehnjähriges Mädchen in einer Zeichnung an einem Rednerpult vor dem US-Präsidenten skizzierte. Bald verkaufte Kate ihre eigene Schülerzeitung und gründete einen Debattier-Club in ihrer Schule, studierte zunächst Journalismus, dann Internationale Beziehungen. Mit 21 war sie bereits die Vorsitzende der Auslands-Demokraten. Doch sie ertrug keine Rückschläge, wollte immer oben stehen und war sich selbst die strengste Kritikerin.

Für die Ausgabe der Irish Times vom 26. November fasste Peter Murtagh den Werdegang, wichtige Lebensstationen und die letzten E-Mails von Kate Fitzgerald in einem sympathischen Artikel zusammen. Vermutlich war er der letzte Mensch, der mit der lebensmüden Frau sprach. Der Beitrag löst eine unerwartet große Resonanz aus: Die Online-Version wird in den nächsten zwei Wochen über 3000 mal aufgerufen, Kates Facebook-Seite wird mit Sympathiekundgebungen gestürmt, es wird heftig getwittert. Allerdings werden Passagen aus Kates Artikel in der Online-Version zunächst gelöscht, derzeit ist der ganze Beitrag geschwärzt. Die Mutter empört sich, dass Kates ‘Abschiedsbrief’ (suicide note) nun im Web verstümmelt worden sei. Immerhin; Depression und Suizid sind in Irland noch immer ungekliebte Themen, die gerne tabusiert und unter der Decke gehalten werden. Die tote Kate aber schafft es, eine öffentliche Diskussion über das Stigma der Depression und über die Selbsttötung auszulösen.

Zwischenzeitlich probten die Schüler und Schülerinnen von Mutter Sally Ann, einer erfolgreichen Gesangslehrerin in Bantry Bay, ein umfangreiches Repertoire für ein zweitägiges Gedenk- und Benefizkonzert für Kate am 9. und am 10. Dezember im altehrwürdigen Eccles Hotel in Glengarriff im irischen West Cork. Der 350-Personen-Festsaal war an beiden Tagen gut gefüllt, die Einnahmen werden allesamt an Plan Ireland gehen. Die Zuschauer wurden gebeten, ein rosa Kleidungsstück zu tragen und so kamen sogar zahlreiche Männer und Jungs in rosa Hemden und/oder Krawatten. Der riesige Weihnachtsbaum war mit rosa Basteleien von Kinderhand geschmückt, die Gardinen wurden mit rosa Taft verziert, Fotos der hübschen Kate wurden auf das rosa Programm-Heftchen gedruckt.

Zu gerne hätte ich gesehen, was in den Köpfen der anwesenden Menschen vor sich ging. Hätte man anderswo vielleicht gelästert, als die trauernde Mutter sich mit schwierigem, jedoch bravourös vorgetragenem Gesang auf der Bühne präsentierte? Würde man ihr ihre gelegentlichen Seufzer und verschämten Tränen übel nehmen? Hätte man den wahrhaft traurigen A-capella-Gesang des Vaters verspottet? Oder hätte man diesen Eltern, denen nichts anderes übrig bleibt, als nach vorne zu schauen und im Sinne von Kate dafür zu kämpfen, dass depressive Menschen eines Tages auch in Irland wirksamere Hilfe erfahren, auch mit ‘Standing Ovations’ Mut und Beifall geklatscht? Die irische Land-Community jedenfalls hat einfühlsam und hilsbereit reagiert und großartig dazu beigetragen, dass dieser Abend würdig und stimmig ablief und dass die Fitzgeralds wenigstens ein kleines bisschen Trost erfuhren in dieser gefühlsschweren Vorweihnachtszeit.

Ob der Stromausfall während des Konzerts technischer Natur war oder ein übersinnlicher Gruß aus dem Jenseits, das muss jeder selbst beurteilen; Hier auf der Insel ist man jedoch gerne bereit anzunehmen, dass auch Kate auf ihrem Benefizabend anwesend war.