Sitzen und Schauen

Seit 20 Monaten beherrscht das Virus unsere Gedanken, es belagert unsere Seele und bedroht unseren Körper. Wir sehnen uns nach der Normalität des alten Lebens zurück – und vergessen gerne, dass auch das alte Leben oft frustrierend und anstrengend war.

In der vergangenen Woche habe ich – ermüdet von der verantwortungslosen Dogmatik meiner einstigen Lieblingslektüre Der Spiegel – nach über einem Jahrzehnt eine Ausgabe des Stern gekauft. Dort schreibt Kester Schlenz in einer brillanten Titelgeschichte (“Ich komm nicht mehr mit”) über das Gefühl, dass ihm die Welt entgleitet. “Rund um die Uhr prasseln Nachrichten auf uns ein. Über alles sollen wir Bescheid wissen. Zu allem sollen wir uns verhalten . . . ” Zwei Zitate:

“Wir alle haben nicht nur eine wachsende Zahl von To-do-Listen zu bewältigen, son dern müssen auch immer mehr To-know-Listen abarbeiten. Um mich herum ein thematisches Dauerfeuer auf allen Ebenen. Jeden Tag. Schon morgens meldet das Smartphone die ersten Push-Nachrichten. Kaum bin ich wach, hat gefühlt schon jeder getwittert, gemailt, kommentiert, analysiert und nicht selten gepöbelt. Nie war mehr Meinung. Alle sagen was, aber kaum jemand weiß Bescheid. News schwirren wie Heuschreckenschwärme durch den Tag und setzen sich auf uns. Immer mehr.

Immer schneller. Die Welt rückt uns auf beispiellose Weise zu Leibe. Und das Smartphone ist das Tor zu dieser Welt. Es macht uns zu Getriebenen eines immerwährenden Informationsstroms, den wir kaum noch bewältigen können. Zu allem soll ich mich irgendwie verhalten: zum Klimawandel, zum Veganismus, zum Gendern, zur vierten Corona-Welle, zu Kryptowährungen, zur Diversitätsdebatte, zur neuen Netflix-Serie, zu Hyperschallwaffen, zur Kriegsgefahr im Indopazifik, zu Booster-Impfungen, zum Islam, zur richtigen Geldanlage und Altersvorsorge oder zur Frage, ob Joshua Kimmich nun zu kritisieren ist oder nicht. „Was sagst du dazu? Findest du nicht auch, dass…? Hast du schon gehört?“

. . .

“Jeder zeigt auf jeden und sagt: Du gehörst in diese Ecke, zu dieser Gruppe. Lerne, besser zu werden! Informiere dich über das, was richtig ist. Du denkst falsch. Es ist anstrengend geworden. Politische Korrektheit etwa entwickelt sich zuneh- mend von gut gemeinter Sensibilität zum wissenschaftlichen Proseminar in Sachen Subkulturen. Ich bin gegen die Diskriminierung von Minderheiten. Ich habe gelernt, welche Begriffe man bitte nicht mehr aussprechen oder schreiben soll. Ich weiß, was die Abkürzung LGBTQ heißt. Aber – Hand aufs Herz: Kennen Sie die Erweiterung LGBTQIA+? Das Fragezeichen gehört übrigens nicht dazu . . .”

 

Und so weiter . . . Erinnern Sie sich an die alte Normalität? Das Virus ist nur die tonnenschwere Zugabe, die uns ein schwieriges Leben noch schwerer gemacht hat. Wie können wir damit umgehen, wie dem immer noch schnelleren Lebenstempo entkommen, wie zur Ruhe kommen? Gehen wir hinaus, zu uns.

Erlauben wir uns eine tägliche kleine Reise der inneren Einkehr draußen in der Natur: Ich schalte den Computer aus, lasse das Smartphone, die Nachrichten aus dem virtuellen Raum zurück. Ich gehe zu Fuß zu einem Ort, der mir gefällt. Mal kürzer, mal länger. Ich setze mich, atme, schaue, höre, nehme meine Umgebung wahr und denke: nichts. Bald rauschen die Gedanken an mir vorbei.

Nach einer Weile teilt der Ort seine Ruhe mit mir. Er nimmt mich auf. Alles wird ruhig. Die inneren Quellen beginnen zu fließen, die innere Stimme spricht leise zu mir.

Heute: Auf dem Berg hinter unserem Haus, hoch über der Bucht

Das Hinaufsteigen strengt an. Es beruhigt mich. Ich gehe im Gehen auf. Der schnelle Schlag meines Herzens und der Rhythmus meines Atems verdrängen die Gedanken. Wenn ich weit genug gehe und hoch genug steige, gelange ich irgendwann über die Sorgengrenze und lasse alle Alltagslasten für ein paar Stunden hinter mir.

Ankommen. Auf dem Gipfel stehen. Hier ist oben. Wer dort oben steht, hat den Überblick. Das ist es, was ich suche und finde: Freiheit für einen Nachmittag und das Gefühl der Erhabenheit. Freie Sicht, freier Kopf, befreite Seele.

Die Pause tut gut. So kann ich zu mir kommen und bei mir bleiben. Einen Berg gibt es fast überall. Auch in der eigenen Phantasie . . .

 

Foto: Auf dem Berg hinter unserem Haus (Cob Dubh, County Cork), Markus Bäuchle © 2021
Zitate: Stern vom 11.11.2021