Weihnacht Irland

Sehnsucht nach der Heimat: Dublin in der Weihnachtszeit

Angesichts des anschwellenden saisonalen Konsumtrubels drängte sich mir im Dorfladen von Pat O’Shea die Frage auf, was Weihnachten eigentlich noch vom Black Friday unterscheidet. Die Preise vielleicht? Dann holte mich eine schreiend-fette Headline im Zeitschriftenregal in die physische Wirklichkeit zurück: “Get Your Booster To Save Christmas”.  Hol Dir Deine Booster-Impfung, um Weihnachten zu retten.

Jeeesooz, muss ich jetzt auch noch Weihnachten retten, rebellierte die Stimme in mir und legte nach: Ist das Leben nicht schon schwer genug? Entwarnung: Die Headline stammte von einem britischen Boulevardblatt und wiederholte das aktuelle Mantra des amtlich anerkannten Lügenbarons Boris Johnson und seiner englischen Regierungs-Kumpane, die gerade mal wieder mit einem bedrohlichen Korruptions-Skandal kämpfen.

Hier in Irland sind wir eigentlich schon ein, zwei Schritte weiter. Geschätzt zwei von drei Bekannten rechnen damit: Weihnachten 2021 kannst Du knicken. Der nächste Lockdown wird kommen, die Frage ist nur wann: Vor, zu oder gleich nach Weihnachten.

Irlands oberster Seuchen-Deuter, der Chief Medical Officer Tony Holohan, hat wieder unser aller Ohr – und wenn man ihm zuhört, verdichtet sich der Eindruck: Wir werden ganz allmählich auf den nächsten Lockdown eingestimmt. Der Aufruf zum Boostern, klar. Doch jeder weiß: Selbst bei Überschall-Impftempo wird das Boostern keinen großen Einfluss auf die Lage an Weihnachten haben. So predigt Holohan unaufhörlich die Litanei des All-Ireland-Teams Vorsicht: Kontakte reduzieren, wenn möglich vermeiden, daheim arbeiten, auf Weihnachts-Parties unbedingt verzichten, daheim bleiben, Händewaschen, Lüften und Maske nicht vergessen. Das meiste ist im Moment noch freiwillig . . .

Einen Monat vor Weihnachten nehmen viele Menschen auf der Insel die aktuellen Nachrichten mit einer Mischung aus Enttäuschung und Resignation entgegen. War das wirklich alles umsonst? Sie haben sich so angestrengt, sind der fürsorglichen Kindergärtnerinnenstimme aus dem Radio gerne ins Impfzentrum gefolgt, haben die freundlichen Einladungen ihres Hausarztes zum Impftermin bereitwillig angenommen, haben sich von der omnipräsenten Regierungs-Kampagne leiten lassen: “We are all in this together” (Wir sitzen alle im selben Boot). Heute hat Irland eine der höchsten Impfquoten weltweit: 95 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind doppelt geimpft.

 

X-mas Irland

 

Der Stolz über den kollektiven Kraftakt hielt nur wenige Wochen. Nun steigt die Zahl der positiv Getesteten, der Kränkelnden und der Kranken rasch an. Schon hat Irland wieder eine der europaweit höchsten Inzidenzen. 116 der nur 320 Intensivbetten landesweit (!) sind belegt, und die Angst geht wieder um. Das Versprechen, sich frei zu impfen, war ein leeres Versprechen, und selbst die Sündenböcke fehlen hier in Irland: Angesichts der traumhaften Impfquote spaltet hier niemand mit der vergifteten Parole von “der Pandemie der Ungeimpften”.

Tony Holohan rechnete uns vorgestern vor: “Wir wissen, dass von 1.000 Covid-19-Fällen 20-25 Personen ins Krankenhaus kommen und 2-3 Personen auf der Intensivstation kritisch behandelt werden müssen. Wir wissen auch, dass seit Juni dieses Jahres einer von vier Menschen, die Covid-19 hatten und in unseren Krankenhäusern auf der Intensivstation behandelt werden mussten, leider verstorben ist.”

Was also tun und was lassen, fragen sich die Menschen auf der Insel – und auch die Millionen Irinnen und Iren, die weltweit schon auf mehr oder weniger gepackten Koffern sitzen, um über die Feiertage in die geliebte Heimat zu fliegen, um ein, zwei schöne Wochen mit Familie und alten Freunden zu verbringen. Buchen oder Stornieren? Fliegen oder Verschieben?

“Home for Christmas”, das ist eine alte, tiefe Sehnsucht im kollektiven Bewusstsein der irischen Auswanderungs-Gesellschaft. Aus der Ferne heim kommen zu den Eltern und Geschwistern, die lange vermissten Freunde treffen, gemeinsam feiern, ins Pub gehen, zusammen essen und Spaß haben . . . Home for Christmas.

Weihnachten daheim: Der Wunsch der Gegangenen könnte zum Fluch der Gebliebenen werden.

 

Fotos: Markus Bäuchle