»Leonard wurde von seiner Mutter unter fröhlich überspielten Mühen allein großgezogen; sein Vater war auf tragische Weise während der Geburt gestorben.« (S. 7)

 

Ode ans Alltägliche

 

Leonard und Paul, von Rónán Hession,
übersetzt von Andrea O’Brien.

Rezensiert  von Ellen Dunne

Mit diesem grund-irischen Satz zieht einen der Dubliner Rónán Hession in seinen Roman, der wie dessen titelgebenden Protagonisten aus der Zeit gefallen erscheint. Die beiden Dubliner Leonard und Paul sind unauffällig, schüchtern, etwas verschroben, leben beide trotz ihres erwachsenen Alters noch zuhause – und sind seit ihrer Kindheit befreundet. Als Leonards Mutter stirbt, schließt er sich noch etwas enger an die intakte Familie seines besten Freundes Paul an. Es ist ein unspektakuläres Leben, geprägt von Brettspielen, gemeinsamem Fernsehabenden und den Hochzeitsvorbereitungen für Pauls Schwester Grace. Bis die temperamentvolle Shelley in Leonards Leben tritt und Paul für einen Preis nominiert wird, was so einiges in Bewegung bringt – zumindest ein bisschen. Klingt alltäglich? Ist es auch. Aber selten wurde eine Truppe unauffälliger Menschen so liebevoll und charmant beschrieben wie Leonard und Paul.

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt, 2023 erhielt sie den Glauserpreis für den besten Kriminalroman. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Rónán Hession: Musiker, Kritiker und Autor mit Blick fürs Unscheinbare

Der 1975 geborene Dubliner Rónán Hession ist ein Beweis für die enge Verbindung, die Worte und Musik seit jeher eingehen. Als Blues- und Folk-Gitarrist hat er sich unter dem Pseudonym Mumblin’ Deaf Ro einen Namen gemacht, als Kritiker bei den Irish Times widmet er sich vor allem Büchern in Übersetzung. Als Autor wirft er einen genauen Blick auf jene, die meist unbeachtet bleiben. Die nicht mitmischen in der lauten Welt, sondern ein unspektakuläres, aber unkomplizierteres Leben den großen Taten vorziehen. So wie Paul, ein Aushilfspostbote, über den unser allwissender Erzähler weiß:

»Für Paul war die Welt kompliziert und die Menschen sowohl Ursache als auch Opfer ihrer Komplexität. Die Gesellschaft betrachtete er wie einen Chemiebaukasten, voller potenziell explosiver Zutaten, die, so man sie mit gebührendem Respekt behandelte, faszinierende und lehrreiche Erkenntnisse liefern konnten, aber besser nicht in die Hände von Menschen geraten sollten, die nicht damit umzugehen wussten. Obwohl sein bisheriges Dasein weitgehend ruhig und ereignislos verlaufen war, hatten sich seine Lebensentscheidungen als goldrichtig erwiesen: Schon jetzt hatte Paul länger gelebt als Alexander der Große und hatte zudem weniger Feinde.« (S. 44)

Eine kleine Geschichte mit großen Fans

Von gutmütig ironischen Betrachtungen auf seine Helden des Alltags strotzt Leonard und Paul geradezu. Wer unerwartete Wendungen und große Dramen erwartet, ist hier falsch. Rónán Hessions Sprache, seine Geduld und Hingabe an seine beiden Normalos und ihren Mikrokosmos von Familie und einer handvoll neuer Freunde sind die Stars dieser Story. Leonard und Paul wurde nach Erscheinen 2019 zum Überraschungshit, und das nicht nur bei den Buchhändler’innen in Irland und im UK. Dass nun eine deutsche Übersetzung vorliegt, ist dem Enthusiasmus des Verlagsangestellten Torsten Woywod zu verdanken, der gemeinsam mit seiner Partnerin Frauke Meurer spontan einen eigenen Verlag gründete, nur um Leonard und Paul auch nach Deutschland zu bringen. Mit Erfolg. Bezaubernd und einfühlsam übersetzt von Andrea O’Brien, schlug Leonard und Paul auch im deutschsprachigen Buchhandel ein und verbrachte mehrere Wochen auf der Spiegel Bestsellerliste.

Für Leserinnen und Leser, die Irland und Dublin kennen und einen Sinn für subtilen irischen Humor haben, ist es ein echtes Vergnügen, wenn Rónán Hession seinen Helden durch die kleinen Herausforderungen ihres Lebens folgt, zum Beispiel wenn Paul im Namen seiner Mutter eine abgelaufene Packung Schokoladenkonfekt beim lokalen Supermarkt moniert.

»Paul war eigentlich ein Mensch, der die Wildwasser des Lebens an sich vorbeiströmen ließ, doch dieser Vorfall löste bei ihm einen kleinlichen Bekehrungseifer aus, den man oft bei Menschen antraf, die sich für andere empörten.
Am Supermarkt blieb er stehen, musterte angewidert die leeren Versprechungen von Kundenzufriedenheit, die ihm von den großen Werbeplakaten auf dem Parkplatz entgegenbrüllten und betrachtete das (zugegebenermaßen unschuldige) Gebäude mit dem Gefühl, dem Ruf seines Schicksals zu folgen.« (S. 104)

Es ist dieser Liebe zu den Figuren zu verdanken, dass der Roman trotz der gemächlichen Gangart und für meine social media-vermurkste Aufmerksamkeitsspanne manchmal arg detailliert erzählten Alltagsgeschichten durchwegs unterhält. Denn am Ende hat sich der Aktionsradius von Leonard und Paul zwar etwas vergrößert, eine Erweiterung ihres Universums kündigt sich an, doch man ahnt: die Bäume werden auch in Zukunft nicht in den Himmel wachsen. Und das ist gut so.

Meine Meinung

Leonard und Paul ist ein ruhiger, wunderschön geschriebener und übersetzter, grundirischer und gleichzeitig universeller Roman über jene Menschen, die im Alltag oft übersehen werden. Leonard und Paul ist ein ermunternder Klaps von einem Buch. Eine kleine heile Insel in all den Stürmen dieser komplexen Welt, wirft es einen liebevollen Blick auf die Schönheiten und kleinen Triumphe eines ganz normalen Lebens.

 

Herzlichen Dank dem Woywod & Meurer Verlag für das Leseexemplar!

 

Leonard und Paul 

Rónán Hession, übersetzt von Andrea O’Brien
Erschienen im Woywod & Meurer Verlag, 320 Seiten

Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7  für 26 €

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


Fotos:  Titelfoto © Ellen Dunne, Cover Woywod & Meurer, Portrait Rónán Hession copyright by Barry Delaney ; Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)