Cillin Dunbeacon

103 :: Der Friedhof der ungetauften Knder von Dunbeacon, County Cork

Manchmal frage ich mich, wie die Menschen auf dieser Insel das schwindelerregende Tempo der Veränderungen in den vergangenen 25 Jahren mitgehen konnten. Wie haben sie den rasanten Wandel verkraftet? Manchmal wirkt es, als sei es Vielen nicht wirklich gut gelungen, als sei die irische Gesellschaft entgegen aller Erfolgs-Geschichten heute besonders labil, angeschlagen und orientierungslos. Die meisten Menschen fröhnen heute einem hedonistischen konsumorientierten Lebensstil. Andere sind das Tempo nicht mit gegangen und verharren in alten Traditionen. Daher rührt eine krasse Ungleichzeitigkeit, das Nebeneinander von alten traditionellen und hypermodernen Lebensformen.

Gerade vorgestern noch herrschte in Irland bittere Armut. Die meisten Menschen hatten wenig Geld, kein Bankkonto, kaum Arbeit und viel Zeit. Gerade gestern noch gaben hier die alten Eliten den Ton an und schrieben den Menschen haarklein vor, wie sie zu leben hatten. Die Leute gingen in die Kirche, verbeugten sich vor Pfarrer und Papst, vor Lehrer und Doktor.

Probleme, Konflikte, Gewalt: Die Schattenseiten der menschlichen Existenz blieben unausgesprochen und unbearbeitet. Er regierten die Tabus, das Wegschauen, Schweigen –  die irische Omerta.  Es ist nur einige Jahrzehnte her, als ungetaufte Kinder, die bei der Geburt oder in ihren ersten Lebenstagen starben, heimlich nach Sonnenuntergang auf einem versteckten, abgelegenen Gräberfeld vergraben wurden, dem Cillín.

Kürzlich ging ich wieder einmal zu einem Cillín, hoch über der Dunmanus Bay. Der Ort wirkt auf den Ahnungslosen wie eine Idylle. Ein einsamer sechs-stämmiger Weißdorn steht auf einer Kuppe inmitten einer weiten Kuhwiese.  Die weite Sicht über die Bucht öfffnet das Herz. Vor mir ein paar Steine, zwei davon aufrecht eingegraben. Darüber schütteres Brombeergebüsch. Eine Insel wie eine Wunde im Grasland, von Mensch und Tier fein säuberlich ausgespart. Dieser Ort bleibt unbeackert, ungenutzt, ausgegrenzt. Menschen – wie viele wohl – erinnern sich ganz offensichtlich an seinen früheren Zweck.

Hier, auf dieser Kuppe, ein paar hundert Meter von den Häusern von Dunbeacon entfernt, wurden bis vor wenigen Jahrzehnten die namenlosen ungetauften Kinder, die Fremden und die Selbstmörder anonym beerdigt. In einem Grabfeld außer Sichtweite. An einem verborgenen Ort, über den nie jemand sprach und von dem doch jeder im Dorf wusste. Hier liegen die körperlichen Reste derer in der Erde, die keinen Platz fanden auf dem Friedhof der Katholischen Kirche. In die offizielle letzte Ruhestätte der Mehrheit, den katholischen Friedhof, gelangte, wer die richtige Eintritts-Erlaubnis hatte: das Sakrament der kirchlichen Taufe. Der Wächter der rigiden Gesetze und Verhaltensnormen trug in jedem irischen Dorf dasselbe: das Priestergewand. Jedes Dorf in Irland hatte seinen Friedhof für die ungetauften Kinder.

Die Cillíní erinnern an eine Zeit des Zwangs und der Tabus, die manche das dunkle irische Mittelalter nennen. Diese finstere Zeit endete vielerorts auf dem Land erst in den 70er-Jahren, vor gerade einmal 50 Jahren. Heute bemühen sich Menschen mit einer Beziehung zur eigenen Geschichte darum, den ausgegrenzten Seelen einen Teil ihrer Würde zurück zu geben. Sie setzen sich dafür ein, dass die Knochen der anonym Begrabenen auf Friedhöfe umgebettet werden, oder dass die Cillini im Nachhinein gesegnet werden.

Die Friedhöfe der ungetauften Kinder geraten langsam in Vergessenheit. Die Kirchen haben sich entleert, die Pfarrer sterben aus. Die meisten Menschen in Irland wollen mit der Kirche nichts mehr zu tun haben. Der Glaube ist ihnen angesichts des massenhaften Fehlverhaltens und der Verbrechen von Pfarrern, Brüdern und Schwestern abhanden gekommen. Das mit der Kirche läuft nicht mehr, das ohne aber auch nicht. Shopping Malls, der Immoblienmarkt, Auslandsferien, Netflix und das nagelneue SUV können das Vakuum nicht füllen.

Ortskoordinaten: 51°36’17.8″N 9°32’07.1″W


Orts-Zeit

 

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Alle Fotos: Markus Bäuchle