Land des Lichts

 

30. Dezember 2020. Mittwoch. Zweitletzter Tag des Jahres.

Eigentlich. Ja, eigentlich wollte ich nichts mehr über Corona schreiben. Das hatte ich mir im Sommer, Ende Juli, vorgenommen, nach fast fünf Monaten im Ausnahmezustand: Das Virus hatte mich zwar nicht am Leib erwischt, und dennoch beherrschte es mein Denken, mein Fühlen, meine Beziehungen, meine Träume. Es hatte sich in unser aller Realität eingeschlichen, sich aggressiv eingenistet, sich in unseren inneren Räumen frech und breit eingerichtet – noch perfider als das Faszinosum des orangefarbenen Kotzbrockens im Weißen Haus das vier Jahre lang meisterlich beherrscht hatte.  Ich wollte dieses Virus los werden. Aus meinen Gedanken schütteln.

Außerdem: Jeder schrieb und schreibt über Corona. Warum ich auch noch? Die Welt war fast monothematisch geworden. Wo bleiben all die anderen schönen, aufregenden, wichtigen und dringenden Themen? Heute, am vorletzten Tag des Jahres, schreibe ich doch noch einmal einige Gedanken über Corona, im Rahmen eines Resümees über das Jahr des Ausnahmezustands, besser: das Jahr im Ausnahmezustand.

 

 

1. Das Vorbild könnte Irland sein.

Schon zum zweiten Mal seit der Milleniums-Wende wird Irland auf dem Kontinent als der insulare Musterknabe Europas gefeiert. Nachdem sich Regierung und Gesellschaft in der Finanzkrise 2008 bis 2012 widerstandslos  von der EU-Troika “retten” und sich zweckdienlich als vorbildliche Patienten vorführen ließen, ertönt jetzt auch in Deutschland erneut das Lied von den vorbildlichen Iren. Sie seien es, die im Kampf gegen Covid-19 mit einem klaren und harten Kurs alles richtig machten, war in den deutschen Medien Anfang Dezember zu lesen – während sich Mary und Paddy zunehmend verschämt in den dritten verordneten Lockdown schlichen. Wer hier lebt, kann die Vorbildlichkeit des irischen Krisenmanagements nicht ganz so klar erkennen.

Seit wir vor 20 Jahren hierher zogen, verfolgen wir das Dauergebrabbel um die Sanierung des maroden irischen Gesundheitssystems. Passiert ist in den 20 Jahren wenig, was den Patienten den Aufenthalt in einem irischen Krankenhaus seitdem erleichtert oder verbessert hätte. Glücklich ist immer, wer ein Bett bekommt und nicht auf einer Liege oder einer rollenden Bahre auf einem Flur liegen muss. Ganze 250 Intensiv-Betten gab es zu Beginn der Krise in den öffentlichen Krankenhäusern Irland. Diese Zahl 250 bestimmte vor allen anderen Kennzahlen die Corona-Politik der Regierung. Nicht viele der 4,7 Millionen Iren durften ernsthaft erkranken, um das Chaos in den Krankenhäusern ausbrechen zu lassen. Man kann auch sagen: Der Regierungschef hieß Angst. Denn ein Norditalien in grün, das wollte man unter keinen Umständen werden.

Während des Frühjahrs-Lockdowns besorgte sich der Gesundheitsdienst eiligst 100 zusätzliche Intensivbetten von den privaten Krankenhäusern. Die Regierung zahlte astronomische Bereithaltungskosten an die Privaten und Naive sprachen schon vom Ende des Zweiklassen-Systems. An einem gut funktionierenden Gesundheitssystem für alle Menschen in der Republik hat die herrschende Elite allerdings kein Interesse. Das hat sie in zwei Jahrzehnten politischen Dauergebrabbels bewiesen – und das beweist sie auch jetzt wieder: Anfang Dezember hatte das Land läppische 280 Intensiv-Betten und wirkte nicht viel besser auf die zweite Welle der Pandemie vorbereitet als auf die erste.

So half eben nur, die Menschen im Namen der Sicherheit und der Gesundheit daheim einzusperren: erst im Zwei-Kilometer-Radius um die eigene Wohnung, dann im Fünf-Kilometer-Umkreis, dann im eigenen County. Sechs Wochen Lockdown im März und April folgten Monate zögerlicher Öffnung, bevor es schon Mitte Oktober für weitere sechs Wochen in den zweiten Lockdown ging, Die Bevölkerung wurde im Herbst mit dem Versprechen auf ein schönes Weihnachtsfest bei der Stange gehalten. Doch bald nach dem 1. Dezember war klar: Mitten im Winter eine Corona-Pause einzulegen und zu feiern, das geht bei der sprichwörtlichen Geselligkeit der familien-bewussten Iren und nur 280 Intensiv-Betten nicht gut.

Noch vor Weihnachten wurden die Zügel wieder angezogen. Schrittweise ging es in den dritten Lockdown, der am 1. Januar erneut ganz strenge Regeln einfordert. Das 5-Kilometer-Freigehege wird gerade aufgebaut. Für wie lange? Die Rede ist von zwei Monaten, oder bis in den März hinein. Das Motivations-Zückerchen heißt jetzt Impfstoff. Und es funktioniert im Großen und Ganzen. Die Menschen sind weitgehend geduldig, Sie sind gehorsam und befolgen die ziemlich autokratisch beschlossenen Regierungsvorgaben mal angstvoll, mal kindlich, mal verständnisvoll, meist ohne Murren – und voller Hoffnung, dass der Impfstoff den Weg in die Freiheit und die Normalität bis zum Sommer frei spritzen wird.

Wenig vorbildlich war Irland bis heute auch beim Schutz der besonders gefährdeten alten Menschen. Stets wird betont, die Verletzlichsten der Gesellschaft müssten solidarisch von Allen geschützt werden. Bis heute allerdings sind die Menschen in den Alten- und Pflegeheimen ihres Lebens nicht sicher: Jeder zweite Corona-Tote hier auf der Insel hatte in den Heimen des Landes gelebt und gelitten. Damit ist Irland allerdings nicht alleine: Auch in vielen deutschen Alten- und Pflegeheimen können sich die Bewohner bis heute nicht sicher fühlen, weil ihnen (und dem Pflegepersonal) kein zuverlässiger Schutz gewährt wird. Noch immer gibt es Heime, in denen systematische Tests die Ausnahme und FFP-2-Schutzmasken Mangelware sind. Und nur Zyniker bestehen darauf, dass alte Menschen ja sowieso sterben . . .

 

 

2. Der Winter, dem kein Sommer folgte.

Irland Corona

Irland in den Zeiten von Corona. Wir leben auf dem Land in Irlands äußersten Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wurde das Leben in den vergangenen vier Monaten vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], führen ein öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Mittlerweile wurde daraus eher ein Wochenbuch. Heute schreibt Markus . . .

Immer wenn die Sommersaison vorbei war, zogen wir uns für den Herbst und den Winter zurück, um für eine Weile in unseren Häuschen am Atlantik wenig zu sagen, die Natur zu hören und die Stille. In diesem Jahr verlängerte sich der Winter in den Frühling und in den Sommer hinein. Das zurückgezogene Lebens, das mir über weite Strecken gut passt, wollte kein Ende nehmen. Der Winter-Lebensstil bemächtigte sich des gesamten Jahres. Die Wandergäste blieben aus, die Pubs geschlossen, alles stand still. Das war der Winter, dem kein Sommer folgte. Mir wurde wieder klar: Es gibt keine Ruhe ohne Spannung. Keine Stille ohne Lärm. Keine Entspannung ohne Anstrengung.

Ich hatte so viel Zeit zum Nachdenken über die großen Probleme und den tiefen Sinn. und ich wurde des Nachdenkens überdrüssig. Trotz übergroßer Ruhe kam ich nicht zur Ruhe. In der Eintönigkeit des täglichen Einerleis drohte ich, meine Prioritäten zu verlieren. Ich schob das Wichtige auf morgen. Selbst die Frage, was wirklich wichtig ist, verlangte Antworten – und bekam zeitweise keine.
Das ewige Einerlei in der Lockdown-Einsamkeit hinterließ seine Spuren auf ganz eigene Weise. Mir fehlte die Kreativität, das sich Einlassen-Können, die innere Ruhe. Und doch ging es mir gut. Ich habe es als Privileg empfunden, diese Monate fern der Städte in der Natur am Meer verbringen zu können, und trotz der verordneten Immobilität viel Raum zu genießen. Der Corona-Sommer wurde auch zu einer Phase der Sammlung und der Reinigung. Welch ein Purgatorium. Die De-Materialisierung meines Lebens nahm Fahrt auf.

 

 

3. Das Comeback des Sozialen.

Die Corona-Krise empfand ich in den ersten Monaten als eine kolossale Überforderung. Plötzlich war Schluß mit all dem Gerede und Theoretisieren und Meinungen haben. Das Ende der Beliebigkeit. Plötzlich wurde das Leben sehr ernst. Aus Meinung musste Haltung und Handeln werden. Das machte es schwierig. Denn wenn ich mich nicht schütze, schütze ich auch die anderen nicht. Wenn ich nicht zurückhaltend bin, schade ich sehr wahrscheinlich auch anderen. Die geliebte Toleranz kippte plötzlich leicht in Verantwortungslosigkeit um.
Dieses Virus ist ein Lehrmeister des Sozialen. Es wirft ein grelles Licht darauf, wie wir leben und miteinander umgehen. Das ego-zentrierte Leben in der libertären Freizeitgesellschaft, genannt “die Normalität”, wurde in diesem Jahr jäh ausgebremst. Große Begriffe erlebten ein Comeback: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Verantwortung, Vielleicht sogar Gemeinwohl. Wir erlebten die Rückkehr des Sozialen. Infrage steht der Freiheitsbegriff der vergangenen Jahrzehnte, den ich zuletzt als pervertiert empfand. Denn das hedonistisch-konsumistische Verständnis von Freiheit kennt die Verantwortung nicht. Er ist im Licht von Corona betrachtet primitiv und roh. Er missachtet und verachtet den Anderen und das Gemeinsame.
Dieses bis vor kurzem mehrheitlich akzeptierte Verständnis von Freiheit ist im Kern primitiver Egoismus. Die Freiheit alles zu tun, sofort. Die Freiheit, alles zu konsumieren und vor allem die Freiheit, zu zerstören, wie es beliebt. Auch wenn wir es uns lange vorgemacht haben: Es gibt keine Freiheit zum Nulltarif, keine Freiheit ohne Verantwortung.
Das libertäre Verständnis von Freiheit hat uns in die tiefe Krise geleitet, in der wir als Menschen auf dieser Erde nun stecken. Es rührt an die tiefer liegende Frage: Wieviel darf ein einzelner Mensch von unseren gemeinsamen Lebensgrundlagen zerstören, ohne in die Verantwortung genommen zu werden? Wieviel Freiheit und Freiraum darf ein Mensch angesichts der Covid-19-Risiken für sich beanspruchen, ohne die Freiheit anderer zu gefährden? Wie viele Flug-Meilen darf ein Mensch pro Jahr abfliegen? Wieviel CO2 darf er produzieren und wie viele Quadratmeter Natur zerstören? Wie groß darf mein Haus sein, wie groß meine Wohnung?
Wie viele Impf-Dosen dürfen wohlhabende Gesellschaften horten? Und wird im armen Süden leichter gestorben? Darf Solidarität eingefordert werden oder stehen den Geimpften künftig mehr Freiheitsrechte zu als den Ungeimpften?
 Es ist zumindest gut, dass wir über solche Fragen wieder nachdenken.

 

 

4. Ist das der große Epochenbruch?

Wir wissen, oder spüren es zumindest: Die Dinge auf dieser Erde laufen in die falsche Richtung. Destruktive Globalisierung, Natur-Zerstörung, Klima-Krise, Massen-Flucht: Ist Corona nur “das Menetekel an der Wand” (ein Begriff, den uns der Schriftsteller Jonathan Swift geschenkt hat)? Vermutlich ja. Denn hinter dem Corona-Horizont scheinen die wirklichen Herausforderungen auf: Wir müssen zumindest die Einschränkungen bejahen und realisieren, die uns ein läppischer Corona-Lockdown nun auferlegt, um das Klima und die Lebensgrundlagen auf der Erde zu retten. Und zwar dauerhaft akzeptieren und praktizieren. Drei Grad Erderwärmung gilt es mittlerweile hinzunehmen, während sich die politischen Eliten nach wie vor in Planeritis und Konferenzitis erschöpfen. Die Nachricht des Jahres (nach der Nachrichtenflut über Corona) war für mich: Die menschengemachte tote Materie auf der Erde ist jetzt erstmals größer als die Biomasse. Das Gewicht von Zement, Asphalt, Plastik, Stahl und Mauersteinen wiegt erstmals schwerer als die Masse der lebenden Materie auf dem Planeten. Wie viele Elefanten mag unser Haus aufwiegen? Wir Menschen sind offensichtlich eine nekrophile Spezies, wie Erich Fromm schon in den 60er Jahren bemerkte. Die einzige, die ich kenne.

Oder stecken wir inmitten des kollektiven Aufwachens? Ist Corona der Wecker, der uns aus dem überhitzten Bett der kapitalistischen Wachstumswirtschaft treibt? Sind wir endlich bereit aufzustehen und dem bequemen Weiter-so zu kündigen? Erleben wir eine Zeitenwende oder nur eine Phase der Triebaufschub? Die meisten Menschen in Europa wollen Umfragen zufolge mehr reisen, mehr erleben und sich mehr vergnügen als vor der Krise, wenn das Virus erst mal besiegt ist. Sie wollen kräftig nachholen, was sie verpasst haben. Ich habe erst mal beschlossen, diesen systemdienlichen Umfragen keinen Glauben zu schenken und mir bis zum Beweis des Gegenteils ein klein wenig Hoffnung zu erhalten.

 

 

5. Und wo lässt Du denken?

2020 war auch das Jahr, das manche Freundschaften und alte Loyalitäten auf eine harte Probe gestellt hast. Mehr denn je wurde klar: Die alten Zeiten sind vorbei. Das Leben wie wir es gekannt haben, wird so nicht wieder kommen. Keine Menschengenerationen zuvor haben größere Veränderungen in ihren Leben gesehen als die unseren. Das Veränderungstempo, die überbordende Vielfalt an Wahl und Möglichkeiten, schließlich die vermeintliche Kommunikations-Demokratie der digitalen Medien, in der jeder senden, meinen, linken, herzen, verunglimpfen und manipulieren kann, nur um selber von den Social-Media-Maschinen manipuliert zu werden: Sie haben uns die alte Übersicht und Übersichtlichkeit genommen. Die Grenzen zwischen Meinungen und Fakten, zwischen Wahrheit und Lüge und Propaganda erscheinen uns verschwommen. Unsere Meinungen und Haltungen werden nun weniger von den alten homogenisierenden Massenmedien geformt als vielmehr von Computer-Algorithmen, die uns subtil in der eigenen Meinungsblase gefangen halten. Das schadet uns und unseren Gesellschaften. Es profitiert die neue Welt-Oligarchie der Digital-Konzerne von Facebook, Google, Amazon und Co.
Wir streiten uns indessen um die Deutungshoheit: Was ist wahr und was nicht? Was ist Verschwörungsmythos und welche tatsächliche Verschwörung ist brutaler als jedes Narrativ? Ist a) Bill Gates der Kopf einer großen Impf-Verschwörung, oder sind b) die großen Pharmakonzerne (“Big Pharma”) längst mächtiger als die Regierungen großer Länder wie Frankreich oder Deutschland? (Bitte ankreuzen. Lösung b ist korrekt). Wie viele Freundschaften mögen an solchen Fragen in diesem Jahr gescheitert sein, wie viele Beziehungen wurden auf Eis gelegt oder gekappt?
Die Abkürzung über Verschwörungs-Narrative gibt uns vielleicht die Illusion der Selbstgewissheit oder der eigenen Einzigartigkeit zurück, sie landet aber zielsicher in der Sackgasse der Verblendung. Wir verstehen heute viel von dieser Welt. Wir müssen aber aushalten, dass wir bei Weitem nicht alles verstehen und erklären können und dass der Weg zur Wahrheit nicht über bequeme Abkürzungen führt. Auch wenn es uns kränkt, müssen wir uns die Frage gefallen lassen und selber immer wieder neu stellen: Wo lasse ich denken? Wo lässt Du denken? Wie entstehen unser Wissen und unsere Überzeugungen?
Wenn wir dann noch das Zuhören üben, uns einlassen auf das Abenteuer wirklich zu zuhören, wenn wir nicht dem Impuls der schnellen Gegenrede folgen; wenn wir Gesagtes einfach einmal so stehen lassen, wie es gesagt wurde; wenn wir unserem Gegenüber wirklich zuhören, tief zuhören, dann sind wir einen Schritt weiter. Wir werden vielleicht erkennen, dass hinter dem Gebrüll Angst steckt, hinter der Beleidigung Verletzung und hinter der vermeintlichen Überzeugung ein großes Fragezeichen.

Teil 2 meiner Gedanken zum Jahr 2020 gibt es hier: Teil 2

Fotos: Markus Bäuchle