Immer dienstags: Heute erzählt Ralf Sotscheck die wahre Geschichte des mutmaßlichen Mörders Alfred John Monson, der nie verurteilt wurde und obendrein von Madame Tussauds einen Viertelpenny Schmerzensgeld erhielt.
Sie wäre jetzt im Dezember 260 Jahre alt geworden, aber Maria Grosholtz, die Henkerstochter aus Straßburg, ist nur 88 Jahre alt geworden. Bekannt geworden ist sie unter dem Namen Madame Tussaud. Mit 17 hat sie ihre erste Wachsfigur geknetet – ein lebensgroßes Modell von Voltaire. Doch mit dem Ausbruch der Napoleonischen Kriege im Jahr 1800 blieb die Kundschaft aus.

Die Irland-Kolumne von Ralf Sotscheck. Der Berliner Journalist lebt seit 1985 in Irland und ist irischer Staatsbürger. Er pendelt zwischen Stadt und Land, irischer See und Atlantik, zwischen Dublin und einem Dorf im Burren. Ralf arbeitet als Irland-Korrespondent für die tageszeitung (taz) und schreibt Bücher, vorzugsweise über Irland und die Iren. Er hält Vorträge, Lesungen und ist ein brillanter Unterhalter. Seine Irland-Kolumne erscheint dienstags auf Irlandnews. Ralfs Website: www.sotscheck.net. Foto: Derek Speirs
Marie Tussaud – sie hatte inzwischen den Ingenieur François Tussaud geheiratet, zwei Söhne bekommen und sich von ihrem trunksüchtigen Ehemann wieder scheiden lassen – zog deshalb 33 Jahre lang mit ihren Figuren durch England und Irland. Sie kehrte nie mehr nach Frankreich zurück, sondern eröffnete 1835 in London ein Wachsfigurenkabinett. Heute gibt es weltweit 21 Niederlassungen. Mit 81 Jahren fertigte sie ihre letzte Wachsfigur an – ein Selbstporträt. 1850 starb Marie Tussaud in London.
Einmal musste das Wachsfigurenkabinett Schadensersatz zahlen, aber das war lange, lange nach Marie Tussauds Tod. Ein Alfred John Monson war 1893 des Mordes angeklagt worden. Er hatte für die wohlhabende Hambrough-Familie als Hauslehrer gearbeitet. 1893 pachtete er das Ardlamont-Gut in der schottischen Grafschaft Argyll für die Jagdsaison. Am 10. August 1893 nahm er seinen 20-jährigen Schüler Dudley Cecil Hambrough mit auf die Jagd. Dann fiel ein Schuss. Monson behauptete, Hambrough habe sich versehentlich selbst erschossen: Als er über einen Zaun geklettert sei, habe sich der Schuss gelöst. Die Polizei glaubte Monson zunächst.
Doch zwei Wochen später versuchte der Trottel, zwei Lebensversicherungen über 20.000 Pfund, die Hambrough angeblich sechs Tage vor seinem Tod zugunsten von Monsons Frau abgeschlossen hatte, einzulösen. Da wurde sogar die Polizei misstrauisch und erhob Mordanklage.
Joseph Bell war Zeuge dieser Anklage. Als forensischer Detektiv war er das Vorbild für Arthur Conan Doyles Kunstfigur Sherlock Holmes, der in der Londoner Baker Street wohnte, wo auch Madame Tussauds erstes Wachsfigurenkabinett lag. Bell sagte aus, dass er davon überzeugt sei, Monson habe Hambrough ermordet. Doch John Comrie Thomson, dem damals berühmtesten Anwalt Schottlands, gelang es, genügend Zweifel bei den Geschworenen zu säen, dass sie das Urteil „nicht bewiesen“ fällten.
Die Erben von Madame Tussaud scherte das nicht. Sie platzierten eine Wachsfigur von Monson mit einem Gewehr am Eingang zum Gruselkabinett, wo Mörder und andere unappetitliche Figuren versammelt waren. Dieses Kabinett wurde vor fünf Jahren geschlossen und durch das „Sherlock Holmes Experience“ ersetzt.
Monson klagte damals und gewann. Es war ein Präzedenzfall. Fortan musste eine Beleidigung nicht schriftlich erfolgen, sondern jemand durfte sich auch durch eine versteckte Anspielung verunglimpft fühlen. Monson konnte seinen Erfolg aber nicht genießen. Er bekam lediglich ein Farthing, also ein Viertelpenny, Schmerzensgeld.
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Titelbild: Wachsfigur bei Madame Tussauds, in diesem Fall in Berlin. Foto: Wikipedia / Christian Schütt
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