Immer dienstags. Heute bewegt sich Ralf Sotscheck auf den Spuren eines berühmten Untoten. Er weiß, wo der Grusel-Graf Dracula erfunden wurde.

Gibt es Untote? Wer einmal in der Krypta unter der St. Michan’s Church in Dublin war, wird die Frage bejahen. Oben im Vorraum der Kirche steht die Orgeltastatur, auf der Händel seinen „Messias“ uraufgeführt hat, unten stapeln sich die Leichen.

Ralf Sotscheck

Die Irland-Kolumne von Ralf Sotscheck.  Der Berliner Journalist lebt seit 1985 in Irland und ist irischer Staatsbürger. Er pendelt zwischen Stadt und Land, irischer See und Atlantik, zwischen Dublin und einem Dorf im Burren. Ralf arbeitet als Irland-Korrespondent für die tageszeitung (taz) und schreibt Bücher, vorzugsweise über Irland und die Iren. Er hält Vorträge, Lesungen und ist ein brillanter Unterhalter. Seine Irland-Kolumne erscheint dienstags auf Irlandnews. Ralfs Website: www.sotscheck.net. Foto: Derek Speirs

Viele sind fünfhundert, manche sogar tausend Jahre tot, aber sie verwesen nicht. In der Ecke sitzt ein Kreuzritter, fast zwei Meter groß, dem man damals die Beine gebrochen hatte, damit die Leiche in den Sarg passte. Der Sarg ist längst zerfallen, der Kreuzritter streckt eine Hand aus, als ob er einen begrüßen will. Ich habe ihm vier- oder fünfmal die Hand geschüttelt, weil es Glück bringen soll. Das ist inzwischen im Interesse des Kreuzritters verboten.

Die Haut fühlt sich ledern an, Haare und Fingernägel sind noch erhalten. Selbst die Gelenke funktionieren noch, wie der Totengräber demonstriert. Es leuchtet ein, dass der Dubliner Autor Bram Stoker hier zu seinem „Dracula“ inspiriert worden ist. Vorigen Donnerstag war es 125 Jahre her, dass das Buch erstmals veröffentlicht wurde. Der ursprüngliche Titel lautete „Die Untoten“, und der Blutsauger hieß Graf Wampyr.

Angeblich basierte Stokers Geschichte auf der von Vlad III. aus der rumänischen Walachei, aber einige Historiker glauben, dass Dracula auf Abhartach beruht, einem mordgierigen Stammeshäuptling, der gern das Blut seiner Opfer trank. Er lebte in Slaghtaverty in der nord‑irischen Grafschaft Derry.

Irgendwann hatten seine Untertanen die Nase voll und ließen ihn von Cathán, einem benachbarten Stammeshäuptling, umbringen. Man beerdigte ihn stehend, wie es bei keltischen Häuptlingen üblich war, aber schon am nächsten Tag kletterte Abhartach aus dem Grab und setzte seine blutige Orgie fort. So tötete Cathán ihn erneut, aber das Monster feierte abermals seine Wiederauferstehung und verlangte nach Blut. Abhartach war zu einem neamh-marbh geworden, zu einem Untoten.

Erst ein Schwert aus Eibenholz brachte ihn endgültig zur Strecke. Man begrub ihn kopfüber, wie ein Druide empfohlen hatte, und legte einen Granitbrocken auf das Grab. Seitdem gibt Abhartach Ruhe, aber die Einheimischen warnen, entferne man den Granitstein, werde der Untote wieder sein Unwesen treiben.

Weil Stoker bis zu seinem siebten Lebensjahr bettlägerig war, erzählte ihm seine Mutter oft Geschichten wie die von Abhartach. Außerdem ist Stoker 1845 geboren, als die Hungersnot begann, der eine Million Menschen zum Opfer fielen. Um zu überleben, zapften viele den Tieren Blut ab und tranken es in ihrer Verzweiflung. Aus dieser Zeit stammt der Begriff „droch-fhoula“, der „verdorbenes Blut“ bedeutet. Ausgesprochen wird es „Drocola“.

Dracula liegt also mitnichten weit weg in einer Gruft in Rumänien, sondern ganz in meiner Nähe. Aber ich habe ja zum Glück die Hand des Kreuzritters mehrmals geschüttelt.


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Titelbild: Filmplakat von 1931