Immer dienstags. Heute weist uns Ralf Sotscheck darauf hin, dass die irische Regierung mit ihren aktuellen Jahrhundertfeiern nicht an alles erinnern will, was 1922 passierte.
Es ist das Jahr der Jahrhundertfeiern in Irland. 1922 zogen die britischen Besatzer ab, der irische Freistaat wurde gegründet, das allgemeine Wahlrecht wurde eingeführt, und der Bürgerkrieg brach aus. Die irische Regierung gedenkfeiert gerne. Bei einer Sache hält sie sich aber bedeckt, denn das Thema ist auch 100 Jahre später noch aktuell.

Die Irland-Kolumne von Ralf Sotscheck. Der Berliner Journalist lebt seit 1985 in Irland und ist irischer Staatsbürger. Er pendelt zwischen Stadt und Land, irischer See und Atlantik, zwischen Dublin und einem Dorf im Burren. Ralf arbeitet als Irland-Korrespondent für die tageszeitung (taz) und schreibt Bücher, vorzugsweise über Irland und die Iren. Er hält Vorträge, Lesungen und ist ein brillanter Unterhalter. Seine Irland-Kolumne erscheint dienstags auf Irlandnews. Ralfs Website: www.sotscheck.net. Foto: Derek Speirs
Damals besetzten in Dublin Arbeitslose den Rotunda-Konzertsaal, nach dem das benachbarte älteste Entbindungskrankenhaus der Welt benannt ist. Die Arbeitslosen, von denen es allein in der Stadt rund 12.500 gab, hatten den Saal ganz offiziell gemietet, weigerten sich aber dann, nach Hause zu gehen.
Oberbefehlshaber war Liam O’Flaherty, Mitbegründer der Kommunistischen Partei, der später einer der berühmtesten Schriftsteller Irlands wurde. Die Besetzer protestierten mit ihrer Aktion gegen „die Apathie der Herrschenden“, sagte er. Boland’s Bakery, die während des Osteraufstands 1916 von den Rebellen besetzt worden war, stiftete vorsichtshalber 500 Brotlaibe. Ein Reporter der Irish Times, der im Konzertsaal war, berichtete, dass die Besetzer militärisch straff organisiert waren, sich abends aber mit Tanz, Gesang und Alkohol vergnügten.
Als O’Flaherty jedoch eine rote Fahne auf dem Gebäude hisste, war der Spaß vorbei. Die rote Fahne war ein rotes Tuch für die katholische Kirche. „Catholic Action“, eine reaktionäre europaweite Organisation, die sich dem Kampf gegen den Kommunismus verschrieben hatte und nach dem Zweiten Weltkrieg in den christlich-demokratischen Parteien aufging, wollte den Rotunda-Saal stürmen, aber die Tür hielt stand.
Ein junger Mann versuchte, die rote Fahne herunterzureißen, fiel aber vom Dach und kam ins Krankenhaus. Ein zweiter Versuch war erfolgreicher, doch kaum war die Fahne entfernt, hissten die Besetzer eine neue. Als sie mehrere Schüsse abfeuerten, kam es zur Konfrontation mit der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die mit der Polizei zusammenarbeitete. O’Flaherty weigerte sich jedoch, den Räumungsbefehl der IRA zu akzeptieren.
Nach vier Tagen schritt die Kommunistische Partei ein. Roddy Connolly, der Sohn des Rebellenführers James Connolly, der nach dem Osteraufstand hingerichtet worden war, befahl O’Flaherty, mit seinen Leuten abzuziehen. Man wollte es sich nicht mit der IRA verscherzen. Connolly behauptete, O’Flaherty und seine Genossen hätten die Arbeitslosenbewegung durch ihre „überhastete und kindische Aktion“ zerstört. Zur Strafe wurden sie nach Cork geschickt, um dort die Partei aufzubauen.
Die Konzertsaalbesetzung war nicht die einzige Aktion der Kommunisten. Es gab zeitweise über 100 Räterepubliken in Irland. Das feiert die Regierung in diesem Jahr natürlich nicht. Die heutigen Obdach- und Arbeitslosen könnten ja sonst auf eigentümliche Ideen kommen.
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Titelbild: Rote Fahne über Irgendwo.
Liam O Flaherty ist einer meiner Lieblingsautoren. Wunderbar seine vielen Shortstories, aber auch The Informer, Famine, The Black Soul…alles wunderbare Bücher mit unwahrscheinlichem psychologischen Tiefgang.