Immer dienstags. Heute erzählt uns Ralf Sotscheck, was ein alter Blechteller, den er beim Aufräumen fand, bei ihm auslöste – und was bei seiner Mutter.
Ich war ein dünnes Kind. Freunde und Bekannte, die mich damals noch nicht kannten, halten das für Fake News. Es stimmt aber. Ich war in Berlin-Lankwitz, wo ich aufwuchs, bekannt als der Knabe, hinter dem die Mutter mit einer Stulle herlief. Wenn ich unterwegs irgendetwas mit offenem Mund bestaunte, schob sie mir Brot hinein.

Die Irland-Kolumne von Ralf Sotscheck. Der Berliner Journalist lebt seit 1985 in Irland und ist irischer Staatsbürger. Er pendelt zwischen Stadt und Land, irischer See und Atlantik, zwischen Dublin und einem Dorf im Burren. Ralf arbeitet als Irland-Korrespondent für die tageszeitung (taz) und schreibt Bücher, vorzugsweise über Irland und die Iren. Er hält Vorträge, Lesungen und ist ein brillanter Unterhalter. Seine Irland-Kolumne erscheint dienstags auf Irlandnews. Ralfs Website: www.sotscheck.net. Foto: Derek Speirs
Etwas subtiler war der Trick mit dem Blechteller und den drei Enten. Die Vögel waren auf dem Boden des Tellers aufgedruckt, und um sie zu sehen, musste ich den Brei aufessen. „Noch ein Löffel, und wir können Eulalie sehen“, ermutigte mich meine Mutter. Ein weiterer Löffel, und Genoveva würde auftauchen. Es klappte, bis ich überlief und den Brei wieder auskotzte, was meine Mutter in die Verzweiflung trieb.
Ich musste jeden Abend auf die Waage. Andere Eltern maßen das Wachstum ihrer Sprösslinge mit Strichen an der Wand, ich bekam einen Eintrag in die Wiegekarte, die eigentlich für Babys bis zum Alter von zwölf Monaten vorgesehen ist.
Neulich, beim Aufräumen, fiel mir der Blechteller wieder in die Hände. Er ist zwar etwas verrostet, und die Enten sind ziemlich verblasst, aber noch gut sichtbar. Eulalie und Genoveva erkannte ich sofort. Wie aber hieß die dritte Ente? Ich rief meine Mutter an. Sie ist inzwischen 95 Jahre alt, aber geistig fit. „Euphrosine“, sagte sie wie aus der Pistole geschossen.
Wie ist sie bloß auf die Namen gekommen? „Eulalie“ heißt ein Gedicht von Edgar Allan Poe. Er hatte den Namen gewählt, weil er den Buchstaben L liebte. Seine Frauengestalten hießen Annabel Lee, Leonore, Ulalume. „Genoveva“ hingegen, deren Name auf das walisische Gwenhwyfar zurückgeht, was „schönes Gesicht“ bedeutet, war eine heilige Jungfrau aus dem 5. Jahrhundert, sie ist Schutzpatronin von Paris.
Und „Euphrosine“ ist eine Oper des französischen Komponisten Étienne Nicolas Méhul, sie wurde 1790 in Paris uraufgeführt. Meine Mutter hatte damals mit Sicherheit noch nie von Poe oder Gwenhwyfar gehört, und von Méhul vermutlich bis heute nicht, was aber keine große Wissenslücke ist.
Ich rief sie erneut an und fragte nach. Ihr Vater, der Ingenieur bei einem großen Elektro-Unternehmen war und sich stets ordentlich mit Anzug und Krawatte kleidete, habe ihr, als sie Kind war, Geschichten erzählt, in denen die drei Namen ständig vorkamen, sagte sie: „Und die Namen habe ich mir gemerkt.“ Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht als Mädchen geboren wurde, da ich in dem Fall wohl einen Entennamen hätte.
Neulich habe ich meine Mutter wieder mal in Berlin besucht. Ihre Freude hielt sich in Grenzen. „Meine Güte, bist du dick“, jammerte sie. „Eines Tages wirst du platzen. Und wer kümmert sich dann um meine Angelegenheiten?“ Meine Ausrede, dass ich endlich meine Magersucht überwunden habe, ließ sie nicht gelten. Man kann es ihr einfach nicht recht machen.
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Titelbild: Personenwaage by Frank C. Müller, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons
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