Immer dienstags. Heute erinnert sich Ralf Sotscheck an einen kulinarischen Alptraum am Weihnachtstag. Das einzig Gute: Es war nicht sein eigener.
Einen Moment lang herrschte peinliche Stille im Raum. Ich hatte das böse T-Wort ausgesprochen. „Möchtet ihr übernächsten Freitag zum Truthahnessen vorbeikommen?“ hatte ich gefragt. Es ist nämlich ein irischer Brauch, dass man nicht nur Weihnachten, sondern am 6. Januar einen gebratenen Vogel isst. Dieser Tag heißt „Nollaig na mBan“: Frauenweihnacht – und deshalb sind theoretisch die Männer für die Zubereitung des Tieres zuständig.

Die Irland-Kolumne von Ralf Sotscheck. Der Berliner Journalist lebt seit 1985 in Irland und ist irischer Staatsbürger. Er pendelt zwischen Stadt und Land, irischer See und Atlantik, zwischen Dublin und einem Dorf im Burren. Ralf arbeitet als Irland-Korrespondent für die tageszeitung (taz) und schreibt Bücher, vorzugsweise über Irland und die Iren. Er hält Vorträge, Lesungen und ist ein brillanter Unterhalter. Seine Irland-Kolumne erscheint dienstags auf Irlandnews. Ralfs Website: www.sotscheck.net. Foto: Derek Speirs
Um die unangenehme Stille zu beenden, fragte ich nach einer Weile: „Oder habt ihr euch am Weihnachtstruthahn überfressen?“ Man wolle darüber nicht sprechen, sagten Thomas und Karena fast gleichzeitig. Erst später, als Thomas ein wenig angetrunken war, rückte er mit der Geschichte heraus. Seine Schwiegermutter hatte darauf bestanden, das weihnachtliche Großgeflügel für das Familiendinner erst am Heiligabend nach 16 Uhr zu kaufen, weil die Supermärkte dann angeblich die Preise herabsetzen. Das habe ihre Mutter schon so gemacht und manchen Cent dabei gespart. Das war allerdings vor 30 Jahren. Heutzutage muß man frische Puter vorbestellen, damit die unverkauften Tiere nicht über die Feiertage in den Geschäften vergammeln.
Das sah die Schwiegermutter freilich erst ein, nachdem sie im achten Supermarkt und in der zwölften Fleischerei dieselbe Auskunft bekommen hatte. Nun war es bereits kurz vor sechs, aber bei „Dunnes“ in der Innenstadt lag noch ein riesiger Vogel in der Tiefkühltruhe – zum vollen Preis, versteht sich. Thomas plädierte für Ente mit Morcheln vom chinesischen Take-away, doch seine Schwiegermutter war traditioneller eingestellt: „Die Nachbarn haben auch einen Truthahn.“ „Aber einen frischen“, wandte Thomas ein. Den hatten sie per Bahn von der bäuerlichen Verwandtschaft bekommen.
Thomas‘ angeheiratete Verwandte bauen jedoch Kartoffeln an, und so blieb nichts anderes übrig, als das tiefgefrorene Exemplar zu erstehen. Natürlich war das Tier am nächsten Morgen noch immer steinhart. Thomas rückte ihm mit der Axt zuleibe. „Ich stellte mir vor, es sei die Schwiegermutter“, sagte er. Der zerkleinerte Vogel passte zum Auftauen zwar in die Mikrowelle, doch damit war das Schreckensmahl noch lange nicht gesichert.
Schwager Brendan sollte den gekochten Schinken mitbringen, denn ohne Schinken ist kein Weihnachtsessen komplett. Da selbst die Grundregeln der Kochkunst an Brendan spurlos vorübergegangen waren, hatte er den Vierpfünder ins Wasser gelegt, eine halbe Stunde gekocht und wieder herausgenommen, weil er „außen so schön rosig war“, wie Brendan es beschrieb. Jetzt war es natürlich zu spät, den Schinken zu kochen. Die einzige Möglichkeit, ihn genießbar zu machen, war auf dem Holzkohlengrill, denn die Herdplatten waren mit Kartoffeln und Gemüse belegt.
So mußte sich Thomas in den Garten stellen, den Grill mit einem Schirm vor dem Nieselregen schützen und den Schinken scheibchenweise garen. „Die Nachbarn halten mich seitdem für wahnsinnig“, meinte Thomas, „und ich weiß, dass sie mich heimlich durch ihr Schlafzimmerfenster fotografiert haben.“ Der Pizza-Expreß sei recht preiswert, sagte er nachdenklich. „Und er soll auch Weihnachten pünktlich liefern.“
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Hier ein Beitrag über das beliebteste irische Weihnachtslied: KLICK
Neues Buch von Ralf Sotscheck: Der Name der Ente
Geschichten aus Irland, die manchmal unglaublich, aber immer wahr sind – und ziemlich lustig. Größtenteils jedenfalls. Ralf Sotscheck ist Berliner, lebt aber seit 1985 auf der Grünen Insel und arbeitet als Korrespondent für taz, die tageszeitun, und andere Medien.
„Einen Sotscheck zu sehen gilt als großes Glück; man muss sich sogleich den Bauch reiben und ein Guinness bestellen. Im Glase sieht man dann Dinge, die es gar nicht gibt – schönes Wetter oder funktionierende irische Behörden.“ Friedrich Küppersbusch
Der neue Sotscheck kann für 12 Euro plus Porto direkt beim Verlag bestellt werden: office@schreibstark-verlag.de. Als eBook kostet es 6,99 € und ist hier bei Thalia erhältlich. Weitere Bücher von Ralf gibt es hier.
Titel-Foto: Markus Bäuchle; Weihnachtsstimmung in Irlands Hauptstadt Dublin
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