016 :: Stimmen der Vergangenheit, Obsession und Erinnerung
Sie trafen sich im Mai 2004 in San Diego. Die 21jährige Studentin aus Irland und der 35jährige Schauspieler aus Los Angeles. Die Affäre dauerte drei Wochen. Sie begegnen sich 19 Jahre später wieder, im Distriktgericht von Dublin. Sie können sich nicht sehen. Die Frau aus Cork sitzt hinter einer Sichtschutzwand. Sie schluckt, sie zittert, während sie spricht. Sie will den Mann nicht sehen. Steven, der Schauspieler aus LA, wird aus einer Haftzelle in den Gerichtsraum gebracht. Es ist der 10. Januar 2022.
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Hartwig* ging auf die 60 zu, als er sich auf die Suche nach Kim machte. Hartwig hatte Kim im Jahr 1972 im Irland-Urlaub kennen gelernt. Er war mit seiner Mutter zu Gast im Castle Hotel in Glengarriff. Kim jobbte dort einen Sommer lang. Die beiden Jugendlichen verbrachten alle freien Stunden zusammen. Zum Abschied schenkte sie ihm ein silbernes Armband mit ihrem Namen, Kim. Sie trafen sich vier Sommer später erneut in Glengarriff. Es war vielleicht die beste Zeit ihres Lebens. Dann ein paar Briefe noch. Sie verloren sich aus den Augen. Heute trauert Hartwig seiner irischen Jugendliebe nach. Er sucht nach ihr. Dazwischen ein Leben und eine lange, erfolgreiche Karriere in Süddeutschland. Hartwig schrieb mir im Spätsommer, bevor die Pandemie ausbrach:
„Für mich emotional nach wie vor verbunden ist diese Zeit mit einem Mädchen, Kim . . . , die seinerzeit im Jahr 1972 einen Saisonjob im Hotel Glengarriff Castle Hotel hatte, 4 Jahre später trafen wir uns erneut im Hotel Eccles Hotel in Glengarriff. Bereits aus dem Jahr 1972 habe ich noch heute in einer Schatulle gut verwahrt ein silbernes Armband mit ihrem Namen Kim, das sie mir bei meiner Abreise schenkte.
1976 trafen wir uns nochmals, um uns dann leider aus den Augen zu verlieren. Allein die Jahre 1972 bis 1976 habe ich sehr gelitten, dass wir uns nicht früher treffen konnten. 1976 trafen wir uns dann endlich wieder. Meine Aufgeregtheit und Freude damals war damals grenzenlos, die Aussicht auf dauerhaftes Halten des Kontaktes und ein Wiedersehen unter damaligen Bedingungen jedoch fast ausweglos. Leider kam es dann auch so, meine Gedanken/Emotionen halten sich aber bis heute.“
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19 Jahre lang konnte Steven seine junge irische Bekanntschaft nicht vergessen. Er hatte drei Kinder und eine Obsession. Er liebte nur sie. Er schrieb ihr nach Irland, regelmäßig, hartnäckig. Er gestand ihr in Emails seine Liebe, immer und immer wieder. Er rief sie an, privat, bei der Arbeit. Er schickte ihr Mitteilungen über Bebo, Myspace, Instagram und Facebook. Sie antwortete nie. Sie studierte Medizin, heiratete, wurde Mutter und arbeitet als Ärztin. Erst blockierte sie ihn, dann löschte sie auf der Flucht vor ihm alle Social-Media-Konten.
Der Schauspieler verlor seine Arbeit und seine Zuversicht. Er fotografierte Chemtrails und las das Guinness Buch der Rekorde von vorne bis hinten. Im letzten Sommer sprach er ihr auf die Mailbox: „Ich habe meinen verdammten Job verloren. Ich kann hier nicht mehr leben. Ich habe dieses Spiel so satt.“ Sie wollte all dies nicht hören. Sie fühlte sich seit Jahren bedroht. Sie hat ein Leben. Er setzte alle Hoffnung auf eine Karte und kaufte ein Flugticket. An Silvester landete der Schauspieler auf dem Shannon Airport, Stunden später klopfte er an ihrer Haustür. Die Mutter öffnete und fragte nur, ob er der Amerikaner sei. Sie schlug ihm vor, den Western Way zu erkunden und schickte ihn weg. Zwei Tage später wird Steven in Dublin verhaftet.
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Hartwigs berufliche Tage sind gezählt. Er hat bald viel Zeit zum Reisen. Er könnte der Stimme aus der Vergangenheit folgen. Vielleicht würde er Kim finden. Vielleicht hat sie auch so oft an ihn gedacht. Vielleicht wartet sie auf ihn. Ob sie immer noch so aussieht wie damals. Wie viel Zukunft ist noch übrig? Wieviel Hoffnung. Am Ende ist alles Erinnerung.
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PS: Anfang Mai wurde Stephen von einem Gericht in Dublin wegen Belästigung zu zwei Jahren Haft verurteilt – eines davon auf Bewährung.
Ortskoordinaten: 51°44’42.6″N 9°31’32.4″W (Glengarriff Castle); Foto: Kim, Kims Armband
* Name geändert.
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Alle Fotos: Markus Bäuchle (sofern nicht anders angegeben)
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