Buch der Tage

017 :: Durrus, Mine Cross; Grabstelle der ungetauften Kinder

An der R591, Abzweigung Mine Cross, zwischen Durrus und Dunbeacon steigen wir über eine Kuhwiese hoch über die Dunmanus Bay. Ein einsamer sechs-stämmiger Weißdorn auf der Kuppe mitten in der weiten Wiese. Ungehinderte Aussicht über die Bucht. Ein paar Steine, zwei davon aufrecht eingegraben. Darüber schütteres Brombeergebüsch. Eine Insel wie eine Wunde im Grasland, von Mensch und Tier fein säuberlich ausgespart. Dieser Ort bleibt unbeackert, ungenutzt, ausgegrenzt. Menschen – wie viele wohl – erinnern sich ganz offensichtlich an seine frühere Bestimmung.

Anonym begraben. Hier, auf dieser Kuppe ein paar hundert Meter von den Häusern von Dunbeacon und Durrus entfernt, wurden bis vor wenigen Jahrzehnten die namenlosen ungetauften Kinder, die Fremden, die Selbstmörder und alle anderen nicht-katholischen Toten beerdigt. In einem Grabfeld außer Sichtweite. Im Cillín, wie die ungesegneten Grabstellen im Irischen heißen. An einem verborgenen Ort, über den nie jemand sprach und von dem doch jeder im Dorf wusste. Hier liegen die körperlichen Reste derer in der Erde, die keinen Platz fanden auf dem Friedhof der Kirche.

Der Wächter der strengen Moral trug in jedem irischen Dorf dasselbe: das Priestergewand. In die offizielle letzte Ruhestätte der Mehrheit gelangte, wer die richtige Eintritts-Erlaubnis hatte: das Sakrament der katholisch-kirchlichen Taufe. Nach herrschender Kirchenlehre waren die Seelen ungetaufter Kinder nicht von der Erbsünde befreit und konnten deshalb nicht in den Himmel kommen. Das Paradies blieb ihnen verwehrt. Ihnen war von den Kirchenlehrern eine Existenz im Limbus, einer Art Vorhölle, vorgeschrieben — und die kleinen Körper wurden heimlich und ohne Ritual, meist nachts, an Orten abseits der geweihten Friedhöfe begraben.

Die Cillíní erinnern an eine Zeit des Zwang, der Gewalts und der Tabus, die manche das dunkle irische Mittelalter nennen und die mancherorts auf dem Lande erst in den 70er-Jahren endete. Heute bemühen sich Menschen mit einer Beziehung zur eigenen Geschichte darum, den ausgegrenzten Seelen einen Teil ihrer Würde zurück zu geben. Sie setzen sich dafür ein, dass die Knochen der anonym Begrabenen auf Friedhöfe umgebettet werden, oder dass die Cillini im Nachhinein gesegnet und von der Nachwelt erinnert werden. Vielerorts in Irland bemühen sich Menschen heute erfolgreich, die Erinnerung an die ungetauften Kinder Irlands zurück ins kollektive Bewusstsein zu holen, die Scham der eigenen Tradition zu überwinden und den offiziellen Segen der Kirche für die Orte der Ausgrenzung zu bekommen.

Es gibt über 1200 heute noch bekannte Cillíní (das irische Wort bedeutet kleine Kirche oder kleiner Kirchhof) in Irland und mutmaßlich noch einmal so viele in Vergessenheit geratene Orte, an denen neben den ungetauften Kindern meist auch Fremde, Mörder und Selbstmörder namenlos und ohne Stein oder Kreuz begraben wurden. Die Tradition der getrennten Bestattung stammt aus vorchristlicher Zeit und wurde in Irland auf Geheiß des katholischen Klerus bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts praktiziert.

Die irischen Cillíní waren einerseits geheime Orte, über die man nicht sprach — andererseits waren die Orte, an denen die Kinderfriedhöfe vor allem ab dem 17. Jahrhundert entstanden, mit Bedacht ausgewählt. Sie liegen oft an landschaftlich besonderen Orten wie auf den Höhen von Klippen, oft auch an einstmals heiligen oder wichtigen Orten mit Kirchenruinen oder vor-christlichen Monumenten wie Steinkreisen und Steinreihen — aber auch im Abseits, fern der täglichen Wege, „im Niemandsland zwischen zwei Dörfern“ (René Böll) oder gar im Zentrum eines Feenhügels.

 

Ortskoordinaten: 51°36’17.2″N 9°32’07.2″W


Orts-Zeit

 

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Alle Fotos: Markus Bäuchle