018 :: Cork, Patrick Street; ohne Wohnung auf der Straße
Eine kalte Nacht geht zu Ende. Die ganze irische Welt ist frostig, nass und grau. Ich denke an die Menschen, die auch diese Nacht im Freien verbracht haben. Man übersieht sie gerne tagsüber, und wer sieht sie schon in der Nacht, wenn sie im Schutz der Dunkelheit nach Geschäftsschluss ihr Nachtlager in einer Einfahrt oder einem Ladeneingang einrichten. Gebettet auf Asphalt. Übernachten vor Einkaufstempeln, bei Debenhams oder Brown Thomas. 11500 Menschen waren Ende 2022 in Irland ohne eigene Wohnung und kamen in einer Notunterkunft unter. Die Dunkelziffer ist weit höher. Fast 100 Wohnsitzlose schlafen gerade in der Hauptstadt Dublin im Freien. In Cork sind es ein paar Dutzend.
Wie viele Schichten Kleidung, wie viele Decken, wie viele Pappkartons braucht es, oder habe ich eine Isomatte, um mich in dieser Winternacht auf der Straße warm zu halten? Wie früh muss ich aufstehen, um nicht den entwürdigenden Blicken der Passanten ausgesetzt zu sein? Wo werde ich etwas zu essen bekommen, wo auf die Toilette gehen, wo mich waschen? Wo gibt es tagsüber etwas Wärme? Wo werde ich geduldet sein, wo vertrieben? Mein linker Schuh ist undicht. Was, wenn meine Erkältung schlimmer wird? Im Jahr 2021 starben alleine auf Dublins Straßen 115 wohnsitzlose Menschen. Das Leben dort draußen greift die Gesundheit an. Es ist gefährlich und ständig bedroht.
Das Bild vom Wohnsitzlosen auf Irlands Straßen hat sich seit der großen Finanzkrise gewandelt. Es ist längst nicht mehr der ältere männliche Alkoholiker, der Platte macht. Irland, eines der reichsten Länder der Welt, hat ein strukturelles Problem. Familien sind betroffen, Frauen. Ein Drittel der Menschen auf der Straße sind Kinder. 3500 Kinder wissen nicht wohin, weil bezahlbare Mietwohnungen fehlen und weil die Kräfte der freiwilligen Helfer begrenzt sind. Die Regierung beteuert seit über zehn Jahren, dass sie “das Problem” beheben wird. Doch dann gibt es immer Wichtigeres. Schutzsuchende aus Syrien oder Afghanistan, Geflüchtete aus der Ukraine, auch Menschen aus Georgien auf der Suche nach einem besseren Leben werden in Hotels untergebracht.
Ortskoordinaten: 51°53’57.7″N 8°28’15.1″W
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Alle Fotos: Markus Bäuchle
danke hans,seh ich auch so , lg susanne
„Unser Land ist voll“, tönt es gerade in vielen Ländern Europas. Schaut man mal genauer hin, staunt man, wie viel Platz tatsächlich noch vorhanden ist. Man müsste Flüchtlinge nicht in Turnhallen oder Hotels einquartieren. Ob in der ostdeutschen Provinz, im ländlichen Bayern, an den Stadträndern von Amsterdam oder in griechischen Dörfern – überall stehen unzählige Häuser leer.
In Dublin sind derzeit rund 40.000 Apartments unbewohnt, darin eingeschlossen luxuriöse Zweitwohnungen und Ferienunterkünfte für Städtereisende. Allein die mehr als 4000 Airbnb-Apartments würden genügen, um die meisten Obdachlosen der Stadt unterzubringen. Viele Vermieter ziehen jedoch gut zahlende Urlaubsgäste vor.
Den meisten Obdachlosen, die sich täglich vor dem Capuchin Day Centre in Smithfield für ein Essen anstellen, ist es übrigens egal, ob Menschen mit oder ohne Kelten-Hintergrund in dieser Schlange stehen.
Lieber Markus, der letzte Satz in deinem Artikel, in dem auf das hausgemachte Problem der unsäglichen Wohnungspolitik, das du vor kurzem selbst sehr anschaulich aufbereitet hattest, hinweist, verstört mich. Nicht nur, weil es ein populistisches Scheinargument ist, dass die Flüchtlinge an sozialen Problemen im Inland Schuld haben. Es besteht auch eine Verpflichtung aller EU Mitglieder, die Flüchtlinge je nach Landesgröße aufzunehmen. Einer EU, ohne die Irlands Aufstieg in die Riege der reichen Länder nicht denkbar ist.
Vielleicht habe ja auch nur was falsch verstanden, an einem Tag, an dem in Connemara ein umgebautes Hotel brennt, das in 4 Tagen von Flüchtlingen bezogen werden sollte……
Ich wünsche euch jedenfalls ein friedliches Weihnachten, liebe Grüße aus Berlin, Hans