Buch der Tage

022 :: Knockatee, County Kerry; Erinnerung an Richard Bigham Mersey

Diese Geschichte sollte vor 15 Jahren geschrieben werden. Es ist nun eine andere wahre Story geworden. Es ist die Geschichte eines gefallenen kleinen Helden.

Über der Bucht von Kilmakilloge thront der Berg der Feen, Cnoc an tSí. Seit jeher halten die Menschen am Fuß des alten Sandstein-Gebirges respektvollen Abstand zum Kleinen Volk. Nur der Geist eines geheimnisvollen Adeligen teilt dort oben am Gipfel mit den Feen in allen Wettern seine Geheimnisse – und den Blick hinüber zum mächtigen Cummeengeera-Gebirge. Der englische Edelmann war bekannt als vierter Viscount Mersey und 13. Lord Nairne. Er starb im 73. Lebensjahr.

Es war die Zeit nach der Milleniumswende. Ich streifte gedankenverloren durch die menschenleeren Berge der Beara Peninsula. Hier oben in den weiten Hochmooren über dem Atlantik traf ich einen anderen Menschen vielleicht einmal im Jahr. Wer war hier wohl zuletzt vor mir gegangen, vor wie vielen Jahren? Wie wenige Menschen mögen hier jemals gegangen sein, wann setzte erstmals ein Mensch seinen Fuß in diese Wildnis? Bald fiel mir in der Bibliothek ein vergriffenes Buch über diese Berge in die Hände. Ein Richard Mersey hatte es in den 80er-Jahren geschrieben: The Hills of Cork & Kerry. Der Text auf dem hinteren Buchdeckel weckte Erwartungen: Es gebe keine Bergwanderer-Tradition in diesen Bergen. Sie seien wild und undokumentiert, ohne Pfade, Wegweiser und Orientierung. Der Autor hatte diese Berge 40 Jahre lang erkundigt und einen ganz persönlichen Führer über seine magischen Erfahrungen in der Bergwelt geschrieben. Ich verstand wenig. Richard Mersey schrieb für Eingeweihte, für sich selbst. Er widmete das Buch seiner lieben Frau Joanna.

Richard Bigham Viscount Mersey

Ausschnitt aus dem Daily Express vom 11. Juli 1978

Jahre später entdeckte ich die Hills of Cork & Kerry ein zweites Mal. Ich verstand das Buch gut und erkannte dessen tiefe Substanz – ich war nun auch in diesen Bergen daheim. Wer war dieser Richard Mersey, der ein halbes Jahrhundert vor mir zweckfrei durch die Hochmoore Bearas gewandert war? Bald erzählte mir eine betagte Freundin vom Glanmore Lake, dass der Bergwanderer und starke Raucher im Jahr 2006 im Alter von 72 Jahren gestorben war. Dass er einer der englischen Landadeligen vom Lansdowne Estate in Lauragh im Kerry-Teil von Beara gewesen war. Dass er Richard Maurice Clive Bigham, 4th Viscount Mersey, 13th Lord Nairne hieß und in Bignor Park im englischen Sussex in einem schlossähnlichen Anwesen gelebt hatte. Dass er von 1979 bis 1999 im britischen Oberhaus, dem Haus of Lords, gesessen hatte. Dass ich Richards Bruder David kannte, den Eigentümer des alten Lansdowne Estates im Kilmakilloge Harbour in der Kenmare Bay. Ich beschloss, an diesen interessanten Vor-Gänger zu erinnern und einen Beitrag über den “Vater der Bergwanderer” von Cork und Kerry zu schreiben. Ich durchsuchte das Internet nach Richard Bigham und fand nichts. Ich erkundigte mich bei der Familie und bekam keine Auskunft.

Wie konnte es sein, dass es über diesen mächtigen Mann der englischen Oberschicht, der zwei Jahrzehnte lang im Oberhaus in London Politik gemacht hatte, keinerlei Informationen gab? Es schien, als wäre mein Bergheld Richard Bigham Mersey spurlos und von den Gegenwärtigen unbemerkt, oder gar hinein gestoßen, in den Bergen von Beara im Hochmoor versunken. Viele Bergwanderungen später stieß ich im Internet auf einen ersten Hinweis, einen Zeitungsartikel aus dem Glasgow Herald vom 20. Juli 1978:

“Der Sohn eines Grafen sagte gestern vor Gericht aus, dass er nach Manchester gereist war, um dort Kinderprostituierte zu treffen, und dass er für die Vermittlung 70 Pfund bezahlt hatte. . . . Der 44jährige Richard Maurice Clive Bigham sagte aus, dass er Mitglied des Pädophilen-Netzwerk Paedophile Information Exchange PIE gewesen war. Über seine Aktivitäten mit dem 10-jährigen Mädchen sagte er, es sei widerlich gewesen und das erdenklich Schlimmste, was er machen konnte.” 

Ich hatte gefunden, wonach ich nicht gesucht hatte. Auf der großen östlichen Nachbarinsel war inzwischen das Recherche-Fieber ausgebrochen. Die Ermittlungen gegen den gefallenen englischen Medienstar Jimmy Saville, der über Jahrzehnte ungehindert Heerscharen von minderjährigen Mädchen sexuell missbraucht hatte, zogen weite Kreise. Licht fiel nun auch auf andere prominente und mächtige Männer, die Sex mit Jungen und Mädchen gehabt haben und sich dafür meist nicht schuldig fühlten. Der Fall Richard Bigham wurde im Internet erneut verhandelt; auch die als Mädchen von ihrer Mutter an Freier verkaufte Frau aus Manchester meldete sich mit einem erschütternden Bericht zu Wort. Demzufolge war der Wander-Lord im Oktober 1977 in Begleitung des Vermittlers Herman Spielman, eines deutschstämmigen Druckereibesitzers, von London nach Salford, einen Vorort von Manchester, gereist. Der Sohn des Grafen Mersey III war damals als Produzent von Dokumentarfilmen tätig und wohnte im hippen Londoner Stadtteil Notting Hill. Er hatte für 70 Pfund eine 40-minütige Begegnung mit den sechs- und zehnjährigen Töchtern der Friseuse und Prostituierten Victoria H. gebucht. Der Freier brachte nach Auskunft des älteren Mädchens “die größten Pralinen” mit, die es jemals gesehen hatte.

Der Prozess gegen Richard Bigham wurde im Juli 1978 ohne Schöffen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Dennoch drangen Details an die Öffentlichkeit. In den 60-er Jahren sei der Sohn des Grafen starker Alkoholiker gewesen, später habe er kinder-pornographische Fotos gesammelt und sich dem Pädophilen-Netzwerk PIE angeschlossen. Der Ehemann und Vater eines 1966 geborenen Sohnes benutzte im Netzwerk den Tarnnamen Wendy. Das Gericht verurteilte den 44-jährigen reuigen Angeklagten wegen “unsittlicher Körperverletzung und grober Unsittlichkeit” zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten. Die Strafe wurde für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Richard Bigham blieb auf freiem Fuß. Elf Monate nach dem Urteil, im August 1979, zog er als Viscount Mersey IV und Nachfolger seines Vaters in das britische Oberhaus, das House of Lords ein. Acht Jahre später, im Jahr 1987, veröffentlichte er als Richard Mersey das Buch The Hills of Cork and Kerry.

Über der Bucht von Kilmakilloge thront der Berg der Feen, Cnoc an tSí. Seit jeher halten die Menschen am Fuß des alten Sandstein-Gebirges Abstand zu den Feen des Berges – und zu diesem Ort des sehr stillen und distanzierten Gedenkens. Dort am Gipfel hat die Familie an einem Felsen eine kleine Gedenktafel angebracht. Sie wurde mehrfach mit den Spitzen von Wanderstöcken beschädigt und wieder zusammengeflickt. Die Schiefertafel erinnert an den Mann, “der diese Berge liebte”: Richard Mersey 1934 – 2006.

 

Ortskoordinaten: 51°47’00.8″N 9°46’30.3″W (Cnoc an tSí, englisch: Knockatee)
Der persönliche Bericht eines der missbrauchten Mädchen lässt sich hier nachlesen


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Alle Fotos: Markus Bäuchle