065 :: Mit wem wir sprechen, wenn wir uns im Internet inszenieren

Wir lachten gerne über Menschen, die fremdelnd mit der neuen Technik umgingen. Wir schrieben ihnen den Angstschrei zu: “Hilfe, ich habe das Internet kaputt gemacht”. Vergangene Nacht träumte ich diesen Satz. Ich phantasierte, dass das Internet abgeschafft worden sei. Mich irritierte, dass es ein schöner und gefühliger Traum war. Ein postmoderner Houdini – es waren nicht die Unehrlich-Brüder – hatte das Internet verschwinden lassen. Jetzt mussten wir alle wieder mit der ersten, der physischen Wirklichkeit zurecht kommen. Viele Menschen weinten in stiller Verzweiflung. Ich umarmte eine Esche.

In den frühen 90-er Jahren hatte ich mich in das große Abenteuer Internet gestürzt. Wir glaubten fest daran, dass die globale Netzwerk-Kommunikation unter Gleichen eine bessere, gerechtere und demokratischere Welt schaffen würde. Wir sahen die fast grenzenlosen Möglichkeiten der neuen Wirklichkeit in den virtuellen Welten. 15 Jahre später setzte die Ernüchterung ein. Es kam alles anders. Unsere Hoffnungen auf weniger Ungleichheit und die Einebnung von Machtgefällen wichen bitterer Gewissheit: Das Internet schuf neue globale Monster und nie gekannte Ungerechtigkeit.

Heute werden wir sehenden Auges vom nächsten gewaltigen Technologiesprung, dem Aufmarsch der künstlichen Intelligenz (KI oder AI) mit gerissen. Wir sind weniger blauäugig geworden und können die Strategien der Disruption, mit denen Fakten und neue Wirklichkeiten geschaffen werden, besser durchschauen. Ich zumindest bin nicht begeistert von der unschönen neuen Welt, die uns von einer relativ kleinen Gruppe Menschen aus dem Westen der USA gerade aufgedrängt wird. Wir können sicher sein: Diese Welt ändert sich nicht nach zwangsläufigen Naturgesetzen. Es sind wenige Menschen, die sie zu ihrem eigenen Vorteil ändern. Wie aber steht es um das Wohlergehen der Vielen?

Wenn ich wirklich verstehen will, wie sehr die Betreiber digitaler Technologien unser Leben innerhalb kurzer Zeit völlig verändert haben, versuche ich mich an die Zeit zu erinnern, bevor das erste iPhone im Jahr 2007 auf den Markt kam, bevor Facebook im Jahr 2008 und Instagram zwei Jahre später in Europa eingeführt wurden. Ein iPod und ein Nokia-Mobiltelefon bereiteten mich auf die neue Welt vor. Heute, keine 20 Jahre später, verbringen wir Tag für Tag viele Stunden abgekehrt von der physischen Wirklichkeit in einer zweiten Realität, in der wir glauben, Subjekte zu sein – und doch nur Produkte sind. Was haben wir bloß mit uns machen lassen, was ist aus uns geworden? Wir sind nun die fast freiwilligen Sklaven und Geiseln eines kleinen schwarzen Hosentaschen-Bildschirms.

Ich schwamm lange vorne im Strom der Zeit und zahlte wie viele meiner Generation den Preis. Wir waren die Versuchskaninchen der ersten Stunde und erlagen der Faszination der Dienste und Geräte widerstandslos. Umso schwerer fiel es, gegen den Strom zurück zu schwimmen, mich allmählich aus den Abhängigkeiten der smarten Algorithmen, von Facebook, Whatsapp, von Messenger, Wickr oder Viber wieder zu befreien. Im Herbst 2020 löschte ich alle Facebook-Seiten – und fühle mich seitdem erleichtert. Die Dopamin-Schleudern sind entschlüsselt und entzaubert.

Dann und wann bewege ich mich auf einem Recherche-Account (zwei Freundinnen! Null posts) durch den Morast der unsozialen Medien, um nicht gänzlich aus der Zeitgenossenschaft zu fallen. Mehr denn je erscheinen mir die wundervollen Ego-Präsentationen unserer Online-Abbilder als Repräsentationen des ungelebten Lebens. Mit wem sprechen wir, wenn wir uns in den digitalen Showrooms unserer Ersatz-Ichs nur von den allerbesten Seiten zeigen? Mit einem eingebildeten Freundeskreis, mit einem phantasierten Publikum? Mit uns selber? Für wen inszenieren wir unser Leben als eine einzige Erfolgsgeschichte? Für wen schicken wir die vermeintlich beste Version unseres Selbst auf den Laufsteg?

Ich fürchte, am Ende sehen wir uns im Spiegel, reden nur mit uns selbst und vergessen, vor lauter Inszenierung zu leben. Dagegen ist es immerhin konsequent, das eigene Leben gleich von anderen vorleben zu lassen, sich im Abglanz von Berühmtheiten und zweifelhaften Vorbildern zu sonnen und sich Leidenschaften und Vorlieben, Stil und Konsumgewohnheiten von Lifestyle-Verkäuferinnen und Influencern, den zeitgemäßen Versionen der Handelsreisenden, einflüstern zu lassen. Ungelebtes Leben bleibt es doch.

Wir können nicht anders. Wir müssen uns zu den technischen Entwicklungen, die uns aufgezwungen werden, verhalten. Auch wenn wir uns abwenden, reagieren wir auf die Handlungen von Menschen, denen wir mutmaßlich nie begegnet sind. Vor ein paar Wochen schrieb ich auf die Startseite meines Web-Magazins Irlandnews in den Seiten-Titel die Worte “KI-frei. Echt.” Die globale Internet-Gemeinde berauscht sich gerade an den Möglichkeiten und Chancen der Künstlichen Intelligenz. In alle virtuellen Verfahren, Prozeduren und Apps werden nun schleunigst KI-Funktionen eingebaut. Fast niemand will den Zug verpassen, fast jede möchte die nächste große Welle mit reiten, um erfolgreich zu sein – zumindest aber, um nicht abgehängt und zurück gelassen zu werden.

Ist es nicht altmodisch, ja alt, überkommen und rückwärts gewandt, sich den neuen Möglichkeiten zu verschließen und weiterhin auf gute, alte Hand- und Kopfarbeit zu setzen, wo die Trendsetter, die Aufgeweckten, die Angepassten und Stromlinienförmigen nun ungeniert von ChatGTP schreiben, von Stable Diffusion bebildern und bald von Sora filmen lassen?

Ja, das ist wohl altmodisch. Es ist die Weigerung, gelebt zu werden, auf ein Produkt reduziert zu werden, auf die Rolle eines Konsumtieres oder eines Prompt-Schreibers. Es ist die Hoffnung auf echtes Leben. Nischen und Sauerstoff dafür wird es auch in den unübersichtlichen alternativen Realitäten der Zukunft geben.

 

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Alle Fotos: Markus Bäuchle