Cloghane Ballybran

066 :: St Patrick´s Day in Cloghane

Den St. Patrick´s Day des vergangenen Jahres habe ich in Cloghane verbracht, einem kleinen abgelegenen Gaeltacht-Dorf am östlichen Fuß des Mount Brandon. Ich wollte den wilden Feiern des irischen Nationalfeiertags ausweichen, hatte mich deshalb in das bei Wanderern beliebte O’Connors Guesthouse in der Brandon Bay auf der Dingle Pensinsula eingemietet. Der kleine Gastraum des Pubs in An Clochán füllte sich gegen Abend des 17. März schnell. Wirt Michéal erzählte in dem ihm eigenen Redefluss ein Best-of seiner Geschichten, er erklärte wiederholt wortreich, wie die Original-Oscar-Statue ihren Weg hinter seinen Bar-Tresen gefunden hatte und er ermunterte mich zu bleiben.

Ich blieb und war bald einer von 80 zusammengewürfelten Gästen: junge Leute, alte Menschen, Einheimische, Touristen, die lokalen Strippenzieher, Freunde alkoholischer and anderer Drogen. Ein junger Franzose erinnerte an den ganz jungen Depardieu und versuchte sich als klampfender Live-Musiker. Es ging auf Mitternacht zu, als Wirt Michéal um Aufmerksamkeit bat. Mit Dingle´s mächtiger Patrick´s Day Parade könne und wolle Cloghane nicht konkurrieren, deshalb veranstalte man statt der größten die späteste Parade auf der Halbinsel. Der Publican hatte sich zusammen mit einem Trio wichtig auftretender Lokalgrößen die Hauptakteure bereits ausgeguckt: Amanda, eine mexikanisch-amerikanische Touristin mit langen violetten Haaren, und Hammi, ein indischer Sikh mit schwarzem Dastar und orangefarbenem Kapuzenpullover, sollten die Parade als Fest-Marschälle anführen.

Drei Runden waren zu gehen: Durch die Pub-Tür hinaus auf die Straße, ums Haus herum und durch den Hintereingang zurück in die Gaststube. Die Parade setzte sich in Bewegung, der junge Franzose schrammelte, Amanda und Hammi gaben an der Spitze des Zuges – sie nun im Leprechaun-Kostüm – ihr Bestes. Die am Tresen trinkenden Locals feixten und zischelten über die Fremden. Alle hatten ihren Spaß. Tourism Ireland hätte die bunte Party kaum besser inszeniert. Multi-Kulti für eine Nacht.

Ich hatte den wilden Feiern des irischen Nationalfeiertags ausweichen wollen – und bin gescheitert.

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Ein Jahr später erfuhr ich, dass das unscheinbare Dorf Cloghane vor fast 50 Jahren unter dem Tarnnamen “Ballybran” internationale Bekanntheit erlangt hatte. Die junge amerikanische Anthropologin Nancy Scheper-Hughes (* 1944) hatte sich im Sommer 1974 für mehrere Monate zur teilnehmenden Beobachtung im Dorf nieder gelassen. Den Ton gaben die IRA und der Pfarrer an. Die Frauen standen den Männern in nichts nach. Die Amerikanerin wohnte dort, integrierte sich schnell, gewann das Vertrauen der Einheimischen und trug ihre Erkenntnisse über ein im Niedergang begriffenes irisches Bauerndorf  und dessen Bewohner systematisch zusammen. Nancy interessierte sich für die Pathologien der dörflichen Kommunikation, für Geschlechterrollen und Liebesleben der Menschen, für das Schicksal der einsamen Junggesellen und anderer Benachteiligter, und für die geistige Verfassung der Land-Iren. Im Jahr 1979 veröffentliche Scheper-Hughes ihre anthropologische Studie über Ballybran-Cloghane unter dem Titel “Saints, Scholars and Schizophrenics” – Heilige, Gelehrte und Schizophrene. Untertitel: “Psychische Erkrankungen im ländlichen Irland.”

Das Buch erhielt 1980 einen der wichtigsten Wissenschaftspreise für Anthropologie und löste im ländlichen Irland heftige Reaktionen aus. Ein Jahr nach Erscheinen hatte eine findiger irischer Journalist den Ort hinter dem Tarnnamen Ballybran identifiziert und preisgegeben. Der größere Teil der Menschen von Cloghane reagierte aufgebracht und wütend, fühlte sich vorgeführt und verraten, kündigte Freundschaften auf und wünschte der jungen Amerikanerin alles Schlechte; ein anderer Teil hielt zu ihr, und sei es nur durch Schweigen; hatte sie doch die Wahrheit geschrieben.

Nancy musste erkennen, dass das ländliche Irland der 70er Jahre auf US-Amerikaner zwar unterentwickelt und rückschrittlich wirkte, dass sie es im atlantischen Westen aber nicht mit einem isolierten Stamm in den Tiefen des Amazonas zu tun gehabt hatte. Diese Leute konnten lesen, schreiben, waren vernetzt und nahmen Anteil an der Welt. Die Vorwürfe, Drohbotschaften, Beschimpfungen und zerbrochenen zwischenmenschlichen Beziehungen beschäftigten die Wissenschaftlerin noch Jahrzehnte später. Im Jahr 1999 beschloss sie, auf Friedensreise zu gehen und Cloghane erneut zu besuchen. Sie wollte mit den Dorfbewohnern sprechen und sich mit ihnen aussöhnen.

Der Besuch geriet zum Desaster: Sie wurde gemieden, abgewiesen, beschimpft, bedroht und schließlich aus dem Dorf vertrieben. Ihr einstiger guter Freund und Nachbar Martin etwa schleuderte ihr entgegen: “Nein, Du bist hier nicht willkommen”, um dann zu einem Generalangriff auszuholen. Scheper-Hughes, mittlerweile Kanzlerin der Anthropologischen Fakultät an der University of California in Berkely, gab diese Auseinandersetzung im Rahmen der fortlaufenden Berichterstattung in der Neuauflage ihres Buches aus dem Jahr 2001 wieder. Martin schrie demnach: “Gib es zu. Du hast ein Buch geschrieben, um dich auf unsere Kosten selbst zu befriedigen. Du hast uns runtergemacht, Mädchen, du hast uns runtergemacht. Du nennst das, was du tust, eine Wissenschaft?” Und bevor ich das verneinen konnte, fuhr er fort: “Eine Wissenschaft, gewiss, die Wissenschaft der Skandale. Wir warnen unsere Dorfkinder, bevor sie auf die Universität in Cork oder Dublin gehen, sich vor Büchern über Irland zu hüten, die von Fremden geschrieben wurden.” Als er sah, dass seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten und mir die Tränen über die Wangen liefen, milderte Martin seine Haltung ein wenig. Doch seine Schwester wies meine Entschuldigung rundheraus zurück: “Du sagst, es tut dir leid, aber wir glauben dir nicht. Das sind Krokodilstränen! Du weinst nur um dich selbst.”

Nancy weinte und litt, geschlagen gab sie sich nicht. Sie resummierte in der Neuauflage ihres Buches selbstbewusst: “Vielleicht haben wir uns am Ende gegenseitig verdient – wir haben uns gut ergänzt und kennengelernt, härter als Nägel, beide Seiten. Stolz und stur, auch. Reuelos und unversöhnlich. Und in gewisser Weise hatten die Dorfbewohner recht, wenn sie sagten: “Wir glauben nicht, dass es dir wirklich leid tut.” Denn in ihren Augen würde dies nichts weniger bedeuten als einen Verzicht auf mein Selbst und auf meinen verflixten Beruf – was ich nicht tun konnte. Aber die Zeit ist, wie man sagt, ein großer Heiler. Es gibt keinen ewigen Zorn, genauso wenig wie es eine unsterbliche Liebe gibt. Alles kann sich ändern. Sinn für Verhältnismäßigkeit und Sinn für Humor können schließlich verletzten Stolz ersetzen. In der Zwischenzeit, wie der Tailor of Ballybran gesagt hätte, ‘lass das einfach liegen’. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre mögen noch schneller vergehen als die letzten. Und, so Gott will, werden Crom Dubh* und ich bis dahin einen Weg gefunden haben, in ‘unser’ Dorf zurückzukehren.”

Die emeritierte Professorin Nancy Scheper-Hughes ist jetzt 80 Jahre alt. Ich werde “ihr” Dorf Cloghane demnächst wieder einmal besuchen.

 

‘* Crom Dubh: ein keltischer Gott, von dem ein altes steinernes Abbild in Cloghane gefunden wurde.

 

Ortskoordinaten: 52°14’05.6″N 10°10’56.1″W (O’Connor’s Cloghane)


Orts-Zeit

 

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Alle Fotos: Markus Bäuchle