Meine irischen Friedhöfe

092 :: Meine irischen Lieblings-Friedhöfe; Templebreedy, County Cork

Vor kurzem habe ich über mein tief-fühliges Vergnügen geschrieben, irische Friedhöfe zu besuchen: Die alten Graveyards und Burial Grounds – im Gegensatz zu den meist stillosen neueren Cemeteries – haben mich immer angezogen. Diese heute traditionell genannten Friedhöfe entstanden einst im Mittelalter als Kirchhöfe um zentral gelegene ländliche Kirchen – meist in der Weite spärlich besiedelter Landschaften. Heute stehen die Kirchen in Ruinen. Sie wurden durch größere Tempel in den Dörfern des 19. Jahrhunderts ersetzt, als Gott noch viele Fans und sein irdisches Personal einen tadellosen Ruf hatte.

Ich ging mit größtem Respekt über die Grabfelder, versuchte nicht auf Gräber zu treten – was angesichts der abwechslungsreichen Mikro-Topographie nicht immer gelang. Im Grasdrüberwachsenlassen sind die Iren traditionell Weltmeister, und so weiß man selten genau, wo ein Grab anfängt und das andere aufhört. Mein übergroßer Respekt schrumpfte, als ich – einem Initiationsritus gleich – von der Bruderschaft der heimischen Motorsensen-Männer eingeladen wurde, am jährlichen Grasschnitt auf dem Dorffriedhof teilzunehmen. Einmal im Jahr hält der katholische Pfarrer eine Messe auf dem Friedhof. Einige Tage vor der Sommermesse unter freiem Himmel senst ein Freiwilligen-Pulk das hüfthohe Gras mit stinkenden, dröhnenden Freischneidern aus dem Weg. Unberührt bleibt das dichte Wurzelgeflecht, das sich in Jahrzehnten als dicker undruchdringlicher Teppich über lange versunkene Gräber und vergessene Grabsteine gelegt hat.

Schon nach wenigen Minuten fuhr mein Gras-Trimmer in ein im tiefen Gras verborgenes Plastiblumengesteck und zerfetzte es krachend. Mir stockte der Atem nur kurz – Johhny P. hatte mir zugeschaut und die Lage sofort erkannt: Never mind, all good, keep going, ermunterte er mich. Mit der Zeit gewann ich Vertrauen und Routine; ich schaute etwas genauer, wie die Local Heroes zu Werke gingen. Sie verströmten Pietät oder Respekt nicht einmal in homöopathischen Dosen. Genauso mäht man ein Fußballfeld, einen Straßenrand, oder das Gras um die Klärgrube. Alles ist vergänglich, vor allem der aktuelle irische Grabschmuck aus Plastik.

Templebreedy., CountyCork

Noch immer gehe ich halbwegs behutsam über die Grabfelder. Ich kenne viele und konnte es mir nicht versagen, im Lauf der Jahre eine kleine Hitliste aufzustellen: Meine Top 3 Schöner Totsein. Wenn ich gerne begraben wäre, was ich nicht gerne wäre, wo wäre ich am liebsten begraben, habe ich mich oft gefragt – um mir das Totsein und im Grabliegen mit den Augen des Lebenden, mit meinen lebendigen Augen vorzustellen: Das Wichtigste: Totsein, diese Kränkung, ist hart genug. Ich möchte dann wenigstens eine gute Aussicht, den freien, unverstellten Blick herunter von der Anhöhe auf das weite Meer – und dann und wann ein bisschen Sonne. Blick gen Westen wäre angenehm . . .

Lange Jahre schienen meine Top 3 der Lieblings-Ruheplätze wie in Grabstein gemeißelt. Bis vorvergangene Woche, als wir uns unversehens und erstmals an einem wundersamen Ort auf einem Hügel oberhalb vom Cork Harbour wiederfanden. Eine Kirchenruine mit ausladendem Kirchhof und einem der besten Ausblicke, die Irlands Südküste zu bieten hat. Templebreedy heißt das Townland und St. Matthews die anglikanische Kirche aus dem 18. Jahrhundert. Die Blicke schweifen auf das nahe Crosshaven, auf Cobh und seine mächtige Kathedrale, auf die enge Hafenausfahrt und die Leuchtturmsiedlung Roches Point auf der anderen Seite der Meerespassage.

Am Friedhofstor haben örtliche Vergangenheits-Taucher ein Schild aufgestellt: SOS – Save our Steeple. Der Kirchturm über der dachlosen Ruine scheint fürs Erste gerettet. Er steht stabil, obwohl er längst außer Dienst gestellt wurde. Die 1778 auf frühchristlichen Fundamenten gebaute Kirche St. Matthews wurde schon 90 Jahre später, im Jahr 1868, zugunsten einer größeren protestantischen Betanstalt im nahen Dorf Crosshaven aufgegeben. Danach wurde der Turm weiß getüncht und diente in Zeiten vor GPS als Navigationshilfe für Seefahrer, die die enge Hafeneinfahrt zu seinen Füßen meistern mussten.

Schafe werden vielerorts dafür gescholten, dass sie in Friedhöfe eindringen und dort die Bepflanzung samt Blumenschmuck von den Gräbern fressen. Nicht so in Irland, wo die Grabgebinde bevorzugt aus wasserbeständiger Dauerware gefertigt sind. Wohl deshalb kamen findige Friedhofsforscher auf die Idee, den unter einer dicken Gras- und Wurzelschicht verschwundenen Friedhof von Templebreedy mit Hilfe von Schafen und Ziegen freilegen zu lassen. Die vierbeinigen Archaeologen haben offensichtlich gute Arbeit geleistet. Sie haben über hundert versunkene Gräber wieder entdeckt und fein säuberlich frei gelegt. Sogar die Londoner BBC berichtete kürzlich über die sensationelle Freifressaktion.

Nun war Ruhe eingekehrt unter dem Steeple von Templebreedy. Ich genoss den Ausblick auf Wasser, Wiesen, Menschenfelsen und suchte – reines Gedankenspiel – nach dem besten Liegeplatz zum Totsein. Sonne? Bestens – soviel das irische Wetter sie eben her gibt. Die Blickrichtung? Na ja. Der Blick ginge eher nach Norden oder, schon besser, nach Osten; das Meer hinterm Kopf im Süden? Ginge das?

Macht nichts, Ginge. Meine ewige Hitliste für die Ewigkeit wankte und fiel an diesem sonnigen Nachmittag. Das war mindestens Platz 2 für Templebreedy. Wäre . . .

 

Ortskoordinaten: 51°47’38.5″N 8°17’16.7″W (St Matthew’s, Templebreedy)

 


Orts-Zeit

 

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Alle Fotos: Markus Bäuchle


 

Blick auf Roches Point