Shandon Bells

041 :: Cork. Die Shandon Bells

Bethlehem hatte seinen Stern, Paris hat seinen Turm. Cork hat den Goldie Fish, die vier Meter lange vergoldete Figur eines Lachses, die weithin sichtbar auf der Spitze eines Kirchturms über der Stadt thront und vielerorts in der City Orientierung bietet. Mal wieder in Cork unterwegs.

St. Anne´s erhebt sich auf dem Hügel von Shandon über dem Nordarm des River Lee. Der Glockenturm der 300 Jahre alten anglikanischen Kirche überblickt die Innenstadt der irischen Südmetropole. Der Turm beheimatet acht Glocken, die Shandon Bells, aus dem Jahr 1750 und eines der schwersten Uhrwerke der Welt; das Räderwerk wiegt zwei Tonnen. Von weit her grüßen die riesigen Zifferblätter der Turmuhr und der Goldie Fish, Zeichen des Wohlstands, der auf der Turmspitze die Windrichtung anzeigt.

Der Goldlachs zieht meine Augen magisch an; er flüstert mir den Spitznamen der Turmuhr: Die Leute von Cork nennen sie The Four-Faced Liar, die vier-gesichtige Lügnerin. Doppelgesichtigkeit kennt man natürlich auch in Irland. Dass die Wahrheit aber gleich vier Gesichter zeigt, das gibt es wahrscheinlich nur in Cork.

Die Kirche St Anne´s wurde im Jahr 1722 gebaut – am Ort, wo einst die mittelalterliche Kirche St Mary´s gestanden hatte. Das Kirchenschiff wurde im Jahr 1749 um den markanten Turm ergänzt, zu dessen Aussichtplattform man sich 37 Meter in die Höhe bewegen muss. Im Jahr 1847 – auf dem Höhepunkt der katastrophalen Hungersnot – baute der in Cork ansässige Uhrmacher James Mangan eine Kirchturm-Uhr mit vier Zifferblättern ein – eins für jede Himmelsrichtung. Damit die armen zeitlosen Bürger der Stadt wenigstens die Uhr lesen konnten.

Weil der Wind oft scharf um den exponierten Turm pfeift, verstellt er immer wieder die Zeiger der Uhr – je nachdem, aus welcher Richtung er bläst. Das führte immer schon dazu, dass die Turmuhr von Shandon unterschiedliche Uhrzeiten in die vier Himmelsrichtungen anzeigt, was ihr den Namen “The-Four-Faced-Liar” eingetragen hat – die viergesichtige Lügnerin.

Ein alter Cork-Witz thematisiert die Uneindeutigkeit der einzigen vier-seitigen Turmuhr der Stadt: Ein Amerikaner fragt einen Corkonian, warum die Shandon-Uhr vier verschiedene Uhrzeiten anzeigt. Er bekommt zur Antwort: “Wofür bräuchten wir vier Uhren an einem Turm, wenn sie alle dieselbe Zeit anzeigten.”

Am Samstag war es mal wieder so weit. Der Gang hinauf über die enge steile Steintreppe ist ein Trip in die Vergangenheit. Er führt vorbei an den Glockenseilen, wo man zum Überdruss der Nachbarn in Shandon ein Lied läuten kann, dann am mächtigen Uhrwerk vorbei, und schließlich hinauf durch das Glockengestühl, auf Tuchfühlung mit den riesigen Glocken. Manche sind mit orangener Farbe markiert, damit Besucher den Kopf nicht unfreiwillig mit dem Glockenklöppel verwechseln. Ich klettere fast ein wenig euphorisch mit eingezogenem Kopf und Ohrschützern durchs Gebälk. Haltegriffe, wie ich sie an Badewannen benutzt habe, garantieren auch im Glockengestühl für Sicherheit. Das ist irischer Pragmatismus vom Feinsten.

Am Ende geht es eine eine enge Steintreppe hinauf zur Aussichts-Ballustrade. Und dann, endlich: Cork von oben aus erstklassiger Panorama-Perspektive. Erhebend.

 

Im Glockengestühl

Ortskoordinaten: 51°54’11.7″N 8°28’34.9″W

 


Orts-Zeit

 

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Alle Fotos: Markus Bäuchle