027 :: Ein Friedhof auf Beara; eine unterirdische Kammer

Die Luft ist feucht und modrig. Ich sitze im Halbdunkel einen Meter unter der Erde in einem Steingewölbe im Souterrain eines Friedhofes weit im menschenarmen Westen der Beara Peninsula. Licht fällt durch das Erdloch über dem rechtwinkligen versunkenen Eingang, durch das ich gekrochen bin. Mit gesenktem Kopf kann ich in dieser drei Meter langen Kammer stehen.  Ich setze mich auf eine der beiden Steinbänke. Es ist still, ich höre nur meinen Atem. Dieser Ort ist unsichtbar. Selbst die Archäologen, die jeden alten Stein in der Gegend akribisch vermessen und in Bestandslisten eintragen, haben ihn übersehen und vergessen.

Wofür wurde diese unterirdische Kammer von wem und wann gebaut? Ich habe es in 20 Jahren des Nachfragens nicht heraus gefunden. Ich weiß, dass der runde erhabene Platz im 8. Jahrhundert von Mönchen bewohnt war. Dass sie ein unterirdisches System mit Kammern und Gängen angelegt hatten. Lager und Schutzräume. Vor zwei Jahrzehnten entdeckte ein Baggerfahrer beim Ausheben eines neuen Grabes einen Tunnel, der von der Nordmauer des Friedhofs vorbei an der Kirchenruine aus dem 11. Jahrhundert über eine Länge von hundert Metern zum Meer führt. Ein Fluchtweg. Ein Wareneingang?

Ich sitze an der Hinterwand des Gewölbes. War diese Kammer eine Krypta, eine Gruft, ein Ort für die Totenwache? Was fand in diesem Raum statt? Ich versuche es zu sehen. Ist dies ein Grab ohne Leichen? Oder stand auf der rechten Seite der Sarg, lag der Leichnam in einem Tuch auf dem Stein? Saßen ihm gegenüber auf der Steinbank Frauen oder Männer, die die Seele des Verstorbenen beschützten? Sangen die Frauen mit hohen flehenden Stimmen ihre Klagelieder, die an den Ruf der Banshees, der Todesfeen, erinnerten? Rauchten die Männer zusammen rituell den Tabak des Übergangs?

Einen der wenigen Hinweise liefert ein Hobbyhistoriker aus dem nahen Castletownbere: Man habe in der Gruft Tabakpfeifen aus Ton gefunden. Er kann das Geheimnis nicht lüften. Mein Freund Peter ist oft mit Ortskundigen über Land gezogen. Er hält die Kammer für “eine Art Minikapelle, die in den Boden eingelassen wurde. Gerade so groß, dass der Verstorbene auf der einen Seite über Nacht vor seiner Bestattung aufgebahrt wurde, während 2-3 Angehörige auf der anderen Seite die Totenwache halten konnten. Zu dieser Zeit hat es die Kirche wohl noch nicht gegeben.”

Michael ist Mitte 70. Er kam aus der Stadt Cork gefahren, um das Grab seiner Eltern mit frischen Blumen zu schmücken. Das Grab liegt direkt über dem Tunnel, sagt er. Michael hat die Halbinsel in den 60-er Jahren wie seine Geschwister verlassen. Sie gingen nach England, nach Amerika. Michael kommt regelmäßig zurück in sein altes Dorf. Hier auf dem Friedhof ist er umgeben von Familie, von Freunden und Bekannten, die schon gegangen sind. Er kannte sie alle. Das Grab eines Schulkameraden erinnert ihn an den grausamen Lehrer, der seine Schüler mit Vorliebe quälte. Keiner aus dem Dorf wollte bei ihm, der nur Gälisch sprach, Gälisch lernen.

Michael weiß um die Kammer an der Ostmauer des Friedhofs. Herunter und hinein gegangen ist er in all den Jahrzehnten nie. Als er Kind war, hatte man ihn gewarnt, Abstand zu halten vom Fairy Lis, dem Feenhügel. Die Alten erzählten sich, dass immer um Mitternacht Licht in der Feengruft brennt. Davor musste man sich hüten, die Geistwesen in Ruhe lassen, um sie nicht gegen sich aufzubringen. Michael hat gehorcht. Michael ist bei guter Gesundheit und spricht kein Gaelisch. Auch seine Freunde haben gehorcht.

Ich werde zurück kommen. In einer Nacht. Kurz vor Mitternacht.

Ortskoordinaten: 51°39’03.9″N 9°54’38.7″W (Zentralort Castletownbere, The Square)


Orts-Zeit

 

Das Inhaltsverzeichnis in Bildern für ein wachsendes Buch der Tage und der Orte. KLICK.

Alle Fotos: Markus Bäuchle