Sheeps Head Tip von unten

034 :: Das Sheep’s Head Lighthouse – von oben, oder von unten

Ich war 20 und hatte das unfreiwillige Vergnügen, an einem Ferien-Ritual teil zu nehmen. Die Familie meiner Partnerin reiste jeden Sommer mit dem Wohnwagen über die Alpen an den Lido di Jesolo. Das Aufregende an dem dreiwöchigen Urlaub war Babbas unorthodoxes Fahrverhalten, das wiederkehrende Wunder, wie er den Mercedes, dessen Anhängsel und uns fast wie im Schlaf zum Ziel brachte. Wir liebten das Leben, wenn wir das Vorzelt in der Wohnwagensiedlung bei Venedig ausrollen durften. In der teutonischen Wagenburg mit den fein gezirkelten Vorgärten, in denen rotmützige Gartenzwerge wachten, kannte man sich aus vielen Sommern. Der Strand war lang, das Brot deutsch, der Vino italiano. Ich beschloss, auf meine Gewohnheiten zu achten.

Viele Sommer später wurde ich selber Ferienritual-Organisator. Ich gab mir viel Mühe, den Wandergästen und mir selber auf immer wieder neuen Touren neue Orte, Ein- und Ausblicke zu bieten. Seit ich wieder alleine durch die Landschaften der irischen Wahlheimat ziehe, weiß ich: Ich war mäßig erfolgreich. Wir wanderten zur allgemeinen Freude und zum Verdruss sehr einzelner Sicherheitsfanatikerinnen gerne abseits der Wege und der Wegweiser. Kürzlich ging ich wieder einmal zur Spitze des Sheep’s Head. Die Halbinsel am Atlantik im südwestlichen Irland wird von der Dunmanus und der Bantry Bay umgeben. Wer den Sheep´s Head wandert, will gerne das ikonische Leuchttürmchen hoch auf den Klippen sehen. Ich verließ wie gewohnt den Wanderweg und folgte dem Küstenverlauf am Klippenabbruch. Bald würde ich am Land´s End von oben, einer Möwe gleich, auf das weiße Lighthouse hinab sehen.

Es kam anders, ich ging anders. Die Stimme des inneren Gelangweilten schlug mir vor, die Klippe hinunter zu steigen, um den Leuchtturm erstmals von unten, vom Meer her anzuschauen. Ich schaffte es hinunter bis ans Wasser – und war  über mich fast so erstaunt wie über den grandiosen Blick auf den winzigen weißen Punkt links oben. Ich hatte mal wieder mit einer Jahrzehnte alten Gewohnheit gebrochen.

Gegen Gewohnheiten ist wenig einzuwenden. Gäbe es sie nicht, könnte man sie nicht brechen. Ohne das Gewöhnliche gibt es kein Besonderes. Die ständige Jagd nach dem Besonderen forciert das Ende desselben. Ohne eingeübte Routinen würde unser Hirn wohl pausenlos ausrasten, wir kennten keinen Alltag, sondern immer nur den Ausnahmezustand der Überforderung. Ohne die Gewohnheiten und Routinen hätten wir weder Zeit noch Energie, das Besondere, die Ausnahme, das Wichtige und das Abwechslungsreiche zu planen und zu leben.

Ich werde nie wieder an den Lido di Jesolo fahren. Ich schreibe eine Hymne auf die Königsdisziplin der Gewohnheiten, eine Serie über kollektiv geprägte und akzeptierte Gewohnheiten: die Rituale.

 

Sheeps Head Lighthouse

Ortskoordinaten: 51°32’34.5″N 9°50’53.9″W (Sheep´s Head Lighthouse, Toreen, County Cork)


Orts-Zeit

 

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Alle Fotos: Markus Bäuchle