Cernunnos

107 :: Cernunnos, Hirschgott der Wildnis

Viele Jahre lang verschwand ich mit anderen Menschen in Irlands Bergen, um weit weg von Alltag und Zivilisation Antworten zu suchen. Warum erahren wir uns so verschieden und getrennt von Tieren, Pflanzen und Bergen? Ist dieser tiefe Riss zwischen Mensch und Natur, ist diese Wunde noch heilbar? Ist eine Aufhebung der Trennung, die Rückkehr in eine gemeinsame Natur möglich?

Die Trennung des vernunftbegabten, sich seiner selbst bewussten Säugetiers Mensch von allen anderen Säugetieren, Tieren und Pflanzen, seine vermeintliche Überlegenheit, hat das Leben auf diesem Planeten aus dem Gleichgewicht gebracht. Wir haben uns, weil wir es konnten, auf Kosten aller anderen Lebewesen breit gemacht. In wenigen zehntausenden Jahren haben wir die totale Kontrolle über diesen viereinhalb Milliarden Jahre alten Organismus Gaja übernommen und konsumieren alles Lebendige zu unserem eigenen Vorteil. Unsere Abkehr von der Natur und die Verleugnung der Natur in uns ist längst zur Bedrohung für alles Leben geworden. Wir haben die Erde in Brand gesteckt, verschmutzt und geplündert, wir rotten das nicht-menschliche Leben aus und vernichten damit unsere eigenen Lebensgrundlagen. Wir wachsen dem Untergang entgegen, und es scheint kein Halten zu geben. Die großen Phantasten, die mit den größten Zerstörern identisch sind, propagieren derweil die Flucht einer kleinen Elite nach Dystopia, dem Mars.

Unsere Sprache hat sich in der Abstraktion des Denkens von den Sprachen allen Lebens isoliert – nur wir Menschen können sie verstehen. Die Verständigung mit dem Raben, dem Habicht oder dem Hirsch ermöglicht sie nicht. Selbst unter uns Menschen ist unsere Sprache längst mehr trennend als einend. In den tobenden Kulturkämpfen des Wir gegen Sie ist die Sprache zur Waffe geworden – und wir sprechen längst nicht mehr alle dieselbe Sprache, auch wenn wir alle Deutsch sprechen: Wir leben in einem neuen Babel der Sprachverwirrung, in einer entzauberten Welt des Getrenntseins und der Entfremdung.

Könnte es also sein, dass die größte Gabe des Menschen, der linkshirnige instrumentelle Verstand, gleichzeitig unsere größte Schwäche ist?  Dass wir unserem gnadenlosen Schicksal nur entrinnen, wenn wir ein neues Bewusstsein finden, dass jenseits der Sprache und hinter den Gedanken liegt – und das größer ist als unser Verstand?

Die Retreats in Irlands Wildnis lehrten uns, uns zu beschränken, tief zuzuhören, zu schweigen und im Moment zu sein. Wir erfuhren, wie wenig wirklich notwendig ist für ein zufriedenes Leben und wie wir mit der Natur wieder in intensiveren Kontakt treten können. Am Ende sind wir stecken geblieben, weil wir eine Lösung gesucht haben. Eine Antwort in unseren Worten und unserer Sprache, geleitet von einem abstrahierenden Verstand, das Ganze bitte in unserer linearen Zeit, innerhalb von einer Woche zwischen An- und Abreise.

Die Schwitzhütten-Rituale am Anfang und Ende erschütterten zwar Zeitbegriff und Verstand, konnten sie aber nicht zugunsten von Zeitlosigkeit und Intuition in die Ferien schicken. Wir haben so letztlich an der Wahrheit ein wenig geschnuppert, sie aber nicht erfahren. Die Retreats blieben so etwas wie Ferien vom Alltags-Ich – allenfalls ein Versprechen, sich auf dem erahnten Weg weiter geduldig voran zu tasten und allmählich neue Türen zu öffnen.

An einer mir zuvor unbekannten Tür, durch die ich in den vergangenen Jahren ging, stand der Name John Moriarty. Die Bücher und Vorträge des 2007 gestorbenen irischen Öko-Philosophen (2. von unten) ließen mich allmählich erkennen, wo wir in den Natur-Retreats stecken geblieben waren. Moriarty war der Meister der Verweigerung und der Freiheit: Er machte sich auf die Suche nach der eigenen Wildheit jenseits der gesellschaftlichen Normen und abseits seiner westlichen kulturellen Prägung. Er reiste in die Tiefen des Unbewussten, zurück in die mythologische Zeit vor der geschichtlichen Zeit, in den Anbeginn des Lebens auf der Erde. Dafür musste er sein diesseitiges Normalleben eines aufstrebenden Akademikers hinter sich lassen. Mit 33 Jahren beendete er die Karriere als Jung-Professor für Europäische Ideenlehre in Kanada und zog sich über 20 Jahre lang in die entlegene Natur in Irlands Westen zurück.

Milan

Moriarty entledigte sich seiner kulturellen Bedingtheit, schaute tief hinter seine westliche Bildung, seine kulturelle Prägung und seine Denkkonzepte. Zurück in Irland erlebte er in einem Moor in Connemara eine mystische Initation: Er hatte einen Hasen aufgeschreckt und fiel in die Kuhle, in der der Hase geruht hatte. Er spürte noch die Wärme des Hasen und nahm seinen Geruch wahr. Am Boden kauernd bat er die Form des Hasen, seinen europäischen Geist zu heilen, alle europäische Kultur und all seine Bildung aus seinem Kopf zu saugen. Auf dem Heimweg verspürte Moriarty das unwiderstehliche Bedürfnis, sich selber zu taufen. In einem Bach tauchte er den Kopf drei mal unter Wasser und taufte sich selbst. Er beschrieb dieses Ritual später mit den Worten: „Ich habe mich aus der Kultur und aus dem Christentum heraus getauft.“

Fortan verbat er seinem Denken jegliche Grenzen und vermied alle Eingrenzungen durch andere. Er bewegte sich innerlich und physisch frei und ungeschützt in gefährlichem Territorium. Er war dem Stadium einer menschlichen Topfpflanze entwachsen, hatte die Begrenzungen des kulturellen Pflanztopfs gesprengt und war nun offen, seine innere Wildheit zu leben, seine Buschseele zu akzeptieren, zeitlos in die Traumzeit einzutauchen, den Weg der Seele zu gehen und die eine Welt jenseits der Gedanken im Mythos zu erkennen.

Moriarty war sich sicher: Wir leben hier auf unserer schönen Erde im Paradies. Wir können dies erkennen, wenn wir unsere Wahrnehmgung ändern und es erschauen. Er lernte, dem Falken die Hand zu geben und den Berg für ihn sprechen zu lassen.

John Moriarty

Der auf einer kleinen Farm im County Galway lebende Autor Paul Kingsnorth beschreibt in seinem Werk, wie die gefräßige Maschine des globalen Kapitalismus die Welt und uns seit über 200 Jahren systematisch zerstört. Er sagt, dass die Maschine uns durch unsere Worte kontrolliert und in Bann hält. Mit dem Psychiater und Gehirnforscher Iain McGilchrist sieht er einen Ausweg jenseits dieser Sprache der Beherrschung, der Kontrolle und der Separation. Wir können dem rechtshirnigen Meister in unserem Bewusstsein die Macht zurück geben, indem wir den linkshirnigen Abgesandten, der die Macht an sich gerissen hat, in die Schranken weisen. Das ist Moriartys Erkenntnis vom Bewusstseinswandel in anderen Worten. Praktisch kann das laut Kingsnorth in kleiner, beharrlicher Arbeit so aussehen:

„Sprachlich gesehen sollten wir also alles daransetzen, dem Meister die Macht zurückzugeben. Das heißt: sich wieder vertraut zu machen mit jenen Arten des Sehens und Sprechens, die die Maschinenkultur verspottet oder ins Lächerliche zieht – Weisen, die jede traditionelle Gesellschaft vor dem Einbruch der Moderne kannte und lebte. Das heißt Mythos, Religion, praktisches Wissen, geboren aus der Arbeit mit den Händen; Bilder, die aus dem Boden wachsen; ein ganzheitliches Verständnis des Lebens; das Gespräch mit Wesen, die nicht Mensch sind; Poesie, Vielschichtigkeit, Fragen ohne Antworten, Fragen, die gar keine Fragen sind. Es heißt, die Zeit als Kreis zu begreifen, nicht als Linie, das Leben als einen Fluss zu sehen, nicht als Problem, das es zu lösen gilt, den Tod als Teil dieses Lebens, nicht als Feind, den man besiegen muss. Manchmal – welch Schrecken – heißt es, das Nicht-Wissen zu umarmen. Es heißt, innezuhalten und schweigen zu lernen.“

In manchen Träumen besucht mich der Hirsch – mal als geschmückter weißer Hirsch mit mächtigen Geweih, mal als fleckiger Zwölfender.  An manchen Tagen kommt der Hirsch auf meine Wiese vor dem Haus. Er fürchtet mich nicht. Vor einigen Tagen besuchte ich den Keramikkünstler Cormac Boydell (unten) in seinem Studio am Ende der Beara Peninsula, dort wo sich der Blick über den Atlantik weitet und Skellig Michael am Horizont erkennt. Cormacs Hände arbeiten tief im irischen Mythos. Er hatte ein Tonbild des keltischen Hirschgottes Cernunnos geschaffen, ein Urbild, nach dem ich lange gesucht hatte. Der Archetyp des Tiermenschen verkörpert den Brückenschlag zwischen  Mensch und Tier, zwischen Wald und Kultur, Bewusstem und Unbewusstem, zwischen der wilden, instinktiven Natur und der zivilisierten, bewussten Welt.

Cernunnos ist älter als das Christentum, das ihn als teuflisch, als Antichrist dämonisierte. Vorchristliche Kulturen verehrten ihn oder Pan als den gehörnten Gott. Seine Symbole – das Geweih, die Schlangen, der keltische Torque – sind tief im kollektiven Unbewussten verwurzelt und sprechen unsere Urerfahrungen an. Sie repräsentieren Fruchtbarkeit, Tod und Wiedergeburt, spirituelle Kraft und Transformation. Das Urbild des Göttlichen, der gleichzeitig Tier und Mensch ist, symbolisiert unsere tiefe Sehnsucht nach Einheit mit der Natur und den eigenen Wurzeln im Animalischen.

Es ist ein weiter Weg. Der Mythos lebt.

 

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Fotos: Wikipedia (Cernunnos), Antje Wendel (Milan), privat (John Moriarty); Markus Bäuchle (Cormac Boydell).


 

Cormac Boydell Cernunnos