086 :: Das Grab im Atlantik und der unbekannte Ort des Border Collies
Die Cliffs of Moher sind ein gefährlicher Ort. Jedes Jahr fallen Menschen von den über 200 Meter hohen Steilklippen in den Tod, weil sie unvorsichtig oder unachtsam waren. Jedes Jahr springen Menschen bewusst von den Klippen, weil sie nicht mehr leben wollen. Viele Unglücke und Suizide an den Cliffs of Moher finden nicht den Weg in die Medien und bleiben der Öffentlichkeit verborgen. Der Atlantik ist ein gefährlicher Ort: Jedes Jahr ertrinken Fischer vor der irischen Küste, weil ihre Boote in schwerem Wetter kentern, manchmal auch Angler, die von einer hohen Welle von den Felsen gespült werden. Wenn Menschen ins Meer fallen, wird immer eine Suche ausgelöst. Die Helikopter der Küstenwache und Suchboote setzen sich in Bewegung, manchmal in der Hoffnung, die Verunglückten noch lebend zu finden – meistens aber, um die leblosen Körper zu bergen. Wenn irische Medien über ein Unglück an den Klippen oder im offenen Meer berichten, dann folgt dies einem bekannten Muster:
„Die Leiche des Mannes aus wurde von Mitgliedern der Küstenwache im Rahmen einer Suchaktion in Zusammenarbeit mit dem Rettungshubschrauber 115 geborgen. Dies gelang noch am selben Nachmittag, an dem der Mann von den Cliffs of Moher gesprungen war. Bei der gerichtlichen Untersuchung im Beisein von Familienmitgliedern sagte die Mutter: „Dies ist ein kleiner Trost, aber es ist ein Trost. Man hört von so vielen Leichen, die noch vermisst werden. Wir würden durchdrehen, wenn die Leiche noch vermisst wäre. Wir fühlen mit all den Müttern und Vätern der Menschen mit, die noch vermisst werden.“ (aus: Breakingnews).
In den Berichten von Unfällen im Meer und von der anschließenden Suche nach vermissten Menschen wird immer auf den Wunsch der Angehörigen hin gewiesen: Die Vermissten müssen unbedingt gefunden werden, auch wenn es nur die toten Körper sind. Das sei entscheidend für die Hinterbliebenen. Sie bräuchten Gewissheit, damit sie ihren Seelenfrieden finden. Und einen Ort zum trauern. Das Grab im Atlantik ist nicht genug.
Vor einiger Zeit traf ich die Eltern von Roland. Der 31-jährige Holländer verschwand an einem stürmischen Samstag im Februar 2014 zusammen mit seinem Freund (33) an der Küste West Corks im Meer. Die Eltern, die in West Cork ein Ferienhaus besitzen, in dem sie mit ihrem Sohn jahrelang die Sommermonate verbracht hatten, wissen bis heute nicht, was genau mit Roland passierte. Die Leiche des Freundes wurde nach zwei Tagen, an einem Montag, in einer Bucht unweit des Ferienhauses aus dem Wasser geborgen. Roland wurde nie gefunden. Die Eltern kehren trotz dieses schweren Schicksalsschlages jeden Sommer in ihr Ferienhaus und an den Ort des Unglücks zurück. Die Mutter sagt, dass Eltern einen solchen Verlust niemals überwinden können. Der Schmerz sei immer präsent, wohl für den Rest des Lebens. Sie sagt auch, dass sie sich nach dem Verschwinden Rolands sehr gewünscht hatte, dass er gefunden würde. Das habe sich im Lauf der Zeit geändert. Sie hat sich damit abgefunden.
Viele Menschen brauchen einen Ort, an dem sie um ihre gegangenen Liebsten trauern können. Dieser Ort ist in unserer Kultur traditionell das Grab auf dem Friedhof; neuerdings bevorzugen manche Menschen das Urnengrab im Friedwald oder auf dem Ruheberg. Witwen und Witwer gehen täglich zum Grab ihres Partners, um ihm über die Grenze zwischen Leben und Tod hinweg nahe zu sein. Sie bringen Blumen, sprechen mit ihm, erzählen von ihrem Tag, sie fragen um Rat. Manche bekommen Antwort, halten Zwiesprache. Im irisch-keltischen Glauben spielt das Wissen um dünne Orte und die dünne Zeit eine wichtige Rolle. Zu gewissen Zeiten, wie an Samhain zu Beginn des Trauermonats November oder in den zwölf Tagen der Yuletide, wird der trennende Schleier zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten dünn und durchlässig. Dann ist es besonders leicht, Kontakt aufzunehmen. Für dünne Orte gilt dasselbe.
Wahrscheinlich aber brauchen wir nicht alle von Natur aus einen Ort zum Trauern und Erinnern. Wenn ich die immer gleich formulierten Berichte in irischen Zeitungen nach Meeresunglücken lese, denke ich, dass dieser Wunsch nach dem Finden und dem Ruhen am letzten Ort ein kulturell geformtes und formbares Bedürfnis ist – und kein menschliches Urbedürfnis. Immerhin können wir gut damit leben, wenn sich Menschen wünschen, dass ihre Asche im Meer, am Strand, im Wald oder in den Bergen verstreut wird. Im Himalaya wird der Leichnam des Toten bis heute in einer Himmelsbestattung den Raubvögeln übergeben. In anderen Kulturen werden die Toten im offenen Feuer verbrannt, ohne dass die Asche danach an einem Ort bestattet wird. Die Rituale sollen die Seele befreien und zum Himmel aufsteigen lassen.
Es sind geliebte Menschen mehr oder weniger spurlos aus meinem Leben verschwunden – sie leben. Auch liegt es mir fern, einen Hund am Mittagstisch mitessen zu lassen und ihn zu vermenschlichen. Als mein Allzeit-Lieblingshund vor 13 Jahren verschwand, um zu sterben, hat er mir allerdings etwas Existentielles beigebracht. Tommy, der Border Collie, war wochenlang schwer krank. Er verspürte den starken Drang, sich zu verkriechen und alleine zu sterben. Nachdem ihm zwei Fluchten durch die Katzenklappe nicht gelungen waren, bat er mich auf seine stille Weise, gehen zu dürfen. Ich ließ ihn ziehen. Wir haben ihn nie gefunden – und es war stimmig. Ich denke auch heute oft an ihn. Tommy hat einen festen Platz in meinem heiligen inneren Raum.
Kann es ein tröstlicher Gedanke sein, dass auf diesem wunderschönen Planeten Erde nichts verloren geht, dass wir alle ein Teil des großen Ganzen sind und auch nach unserem Tod bleiben? Egal wie? Egal in welcher Form? Egal an welchem Ort?
Ortskoordinaten: Kein Ort
Foto Border Collie: Eliane Zimmermann
Das Inhaltsverzeichnis in Bildern für ein wachsendes Buch der Tage und der Orte. KLICK.
Alle Fotos, sofern nicht anders erwähnt: Markus Bäuchle



Wie gut und zugleich tröstend, dass Tommy einen lieben Freund hatte, der ihm nicht nur „zuhören“ und damit seine Signale verstehen konnte, sondern auch das tiefe Verständnis – trotz eigener Trauer- für seinen Wunsch aufbrachte und ihn zum Sterben in die Natur gehen ließ. Der Platz im Herzinnenraum, im Seelenland, im Licht des Universums bleibt all jenen die wir liebten und weiter lieben und ja das ist sehr tröstlich. Du hast es wunderbar beschrieben Markus.
Als noch ganz junge Ärztin lernte ich ein Ritual kennen, das ich bis dahin nicht kannte. Unsere alten, erfahrenen Krankenschwestern sagten mir, wenn sie meinten, das ein Patient gehen würde… sie erkannten es an Vielem, am Geruch, an kleinen Zeichen… und sofort nach dem letzten Atemzug öffneten sie jeweils weit das Fenster des Krankenzimmers und sagten erklärend dazu: die Seele müsse nun frei sein dürfen…
Ich habe mal eine Abmahnung kassiert, weil ich einer Sterbenden ihren letzten Wunsch erfüllte. Sie wollte unbedingt nochmal ihre Katze im Arm halten und streicheln… das ist in einer Klinik natürlich strengstens verboten. Ich wußte, dass die Nachbarin der Patientin die Katze betreute (und auch weiter behalten würde). Sie war auch die angegebene Kontaktperson. Als abzusehen war, dass es nicht mehr lange dauern würde und die alte Dame inständig ihre Bitte äußerte, habe ich die Nachbarin angerufen, ihr gesagt, sie möge die Katze in einen kleinen Korb und diesen in eine große Tasche tun und damit herkommen. Ich tauschte für diesen Tag meinen Bereitschaftsdienst und war also dort auf Station. Es war ein ganz wundervoller und friedlicher Abschied, die alte Dame ging in den Wind der Welten mit einem Lächeln auf den Lippen, die geliebte Katze dabei im Arm haltend und spürend… Leider miaute die Katze dann auf dem Stationsflur in der Tasche… die junge Krankenschwester die Dienst hatte schoß auf den Flur und stellte die Nachbarin zur Rede.Da ich unmittelbar in diesem Moment aus dem Sterbezimmer kam, erklärte ich der Schwester was ich veranlasst hatte. Sie hatte dafür Null Verständnis und meldete den Vorfall wie sie das ausdrückte am nächsten Tag pflichtbewußt der Klinikleitung…
Sehr viele (eigentlich immer mehr) Menschen können mit Tod und Sterben in keiner Weise mehr umgehen und auch nicht los- und gehen lassen. Das ist sehr traurig. Und für Sterbende äußerst bedrückend…
Den speziellen Ort zum Trauern brauchen immer noch sehr viele Menschen. Da ich am Meer aufwuchs und auch lange lebte, waren mir Seebestattungen (der Asche heutzutage) gegenwärtig. Ich habe nur immer wieder erstaunt feststellen müssen, dass Angehörige trotzdem einen Platz wünschten, eine Art „Denkmal für alle Seebestatteten“ im Ort, wo sie hingehen und Blumen hinbringen und Zwiesprache halten könnten. Das wurde dann auch irgendwann gebaut… Aber ich selbst verstehe bis heute nicht, warum ihre Liebsten nicht bei ihnen sind, wenn sie am Meer entlang laufen, die Wellen rauschen und die Haut berühren, wenn der salzige Wind das Haar küsst und die Haut umarmt… das IST Ihr Liebster und er ist immer da, wenn sie an ihn (und nicht nur dort) denken und ihm dann im Herzinnenraum, dem heiligen Innern wie Du es sagst, begegnen.