106 :: Glengarriff, County Cork
An Glengarriff schätze ich im Sommer am meisten, dass wir in sicherer Entfernung leben. Unser kleines, eigentlich liebenswertes Dorf an der Durchgangsstraße N71 von Bantry nach Kenmare ist während der Tourismus-Saison schwer erträglich geworden, seit es seinen eigenen Ausverkauf energisch geschehen lässt. Der touristische Rummelplatz am Fuß der Caha-Berge wird von Jahr zu Jahr schriller, bunter und lauter. Die Zahl der Tagesgäste ist förmlich explodiert.
Die überregionalen Medien haben aufgerufen zum Sturm der letzten Oasen und der wenigen halbwegs unversehrten Regionen auf der Insel, um diese unbedacht zu konsumieren. Go to Glenagrriff. Glengarriff lässt sich in diesem Sommer unkontrolliert überfluten. Der Ort, dessen einzigartiges Kapital die ihn umgebende Natur aus Bergen und Meer, aus Flüssen, Inseln und Mooren ist, weiß seit Jahrzehnten nicht, was es sein will – und gibt sich den einströmenden Massen gerne hin.
Es gibt auch eigene Bemühungen. Das Dorf hat sich offenbar entschieden, ein Abklatsch seiner selbst zu werden und sich zu einem bei Amerikanern beliebten Stereotyp vom typisch irischen Küstendorf zu stilisieren. Um in einer lauten Welt gehört, in einer grellbunten Welt gesehen zu werden, scheint man selber laut und bunt sein zu müssen. Das jedenfalls glauben manche Leute in Glengarriff.
Living The Dream – Glengarriff, steht neuerdings unter einem fassadengroßen Wandgemälde mit Seehund und Seeadler. Faust aufs Auge, Farbe an die Wand: Den Traum leben. Oder eher Das Leben träumen? Zumindest hat hier die Initiatorin des Murals an der Hauswand der Dorfärzte ihren farbigen Traum ausgelebt.
Auch der tausende mal benutzte Claim „We ❤️ . . . “ hat endlich Glengarriff erreicht und ziert nun eine andere Fassade. Lieben und herzen wir eben auch Glengarriff, und dazu die Pizza von Gigi. Das neben dem Herz-Claim sind übrigens nicht die Stäbchen des Chinesen. Hier wird die frühmittelalterliche irische Schrift Ogham verwurstet. Aus den Strichen entsteht das irsche Wort Beannock, Brotfladen, ein Hinweis auf das italo-irische Street Food, das ums Eck gereicht wird.
Unser Dorf hat sich während der hermetischen Pandemiejahre zum Zentrum der regionalen Straßen-Imbiss-Szene hochgearbeitet. Auf dem geräumigen Privatparkplatz des arrivierten Pulloververkäufers Quills locken Food-Trucks und mobile Buden massenweise Tagesgäste in den Open-Air-Imbiss zwischen geparkten Autos.
Das Größer-Bunter-Schriller soll sich freilich nicht in Fassadenmalerei und Fast Food erschöpfen. Die Ankunft des ersten überdachten Buswartehäuschens in der Gegend steht nun wie ein Statement im Dorf – ein Signal des Aufbruchs: Quills, der Händler irischer Kleidungsfolklore, aus der gerne mal das Made-in China-Label systematisch heraus geschnitten wird, will seine Ladenflächen um 650 Quadratmeter, um ein Restaurant und ein Café erweitern – die rollenden Fast-Food-Verkäufer müssen dann wohl zur Freude der stationären Händler weichen. Und auch die Tankstelle samt lizenzierter Alkoholtanke, die das historische Eccles-Hotel am Ortseingang seit 20 Jahren so banal konterkariert, möchte sich dringend vergrößern.
In anderen Häusern des Dorfes gedeihen gerade die Pläne zum Mithalten und Nachziehen. So schiebt sich allmählich die Gegenwart vor die Vergangenheit, die hier länger ausgehalten hat als andernorts in Irland. Die Parks des Ortes stehen derweil vor einer unsicheren Zukunft: Der Skulpturenpark The Ewe löst sich in wenigen Wochen auf, Garnish Island stagniert vor sich hin – und was aus dem Bamboo Park nach dem Tod des Senior-Chefs wird, kann man nur raten.
Ob allerdings alles so kommt, wie es geplant ist, will abgewartet werden. In Glengarriff wurde schon immer mehr das Leben geträumt, als der Traum gelebt. Von vielen großartigen Projekten, die nie Wirklichkeit wurden, schwelgt man hier bis heute: Glengarriff sollte einst Dampfschiff-Hafen und Drehkreuz für den Schiffsverkehr in die USA werden, es sollte der luxuriöseste Seebadeort Westeuropas werden und ein international anerkannter Luftkurort dazu; es sollte das landwirtschaftliche Zentrum Irlands und die Kapitale der ländlichen Koop-Bewegung werden; es sollte ein 30-Millionen-Euro-Fünf-Sterne-Hotel erhalten und ein Acht-Millilonen-Euro-Denkmal für den Hollywood-Altstar Maureen O’Hara. Einen tollen Yachthafen sollte es bekommen – und einen Spazierweg auf Stelzen vom Dorf in das ein Kilometer entfernte Naturschutzgebiet. Von diesem Traumpfad abseits der gefährlichen Nationalstraße phantasiert Glengarriff seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Das gibt Hoffnung. Den einst schlicht-schönen Spazierwegen am Meer um den Blue Pool wurde derweil mit Tonnen von Asphalt und skurrilen Rollstuhlrampen ästhetisch der Gnadenschuss verabreicht.
Ich lebe Southeast of Eden – nach Eden fahre ich alle zwei Wochen vielleicht, in den ruhigen Wintermonaten gerne öfter. Noch benötige ich keinen inneren Reisepass.
PS: Diesen Beitrag schrieb ich in erster Version am Tag, an dem die Regierung der kleinen Insel Irland bekannt gibt, in den kommenden fünf Jahren 112 Milliarden Euro in den Ausbau der Infrastruktur (Wohnungsbau, Transport, Stromversorgung, Wasserversorgung) zu investieren. Das hat Merzsche Dimensionen – nur dass sich die Iren das aufgrund der Phantasie-Steuerabgaben steuersparender amerikanischer Multinationals von Apple bis Google derzeit gerade leisten können. Von Naturschutz war übrigens nicht die Rede.
Ortskoordinaten: 51°45’01.0″N 9°33’01.4″W
Das Inhaltsverzeichnis in Bildern für ein wachsendes Buch der Tage und der Orte. KLICK.
Alle Fotos: Markus Bäuchle
Mein Beitrag über Glengarriff aus dem Jahr 2012 ist hier zu lesen.



Lieber Markus,
Dafür, dass Glengariff nur ca 200 Einwohner haben soll, ist es irgendwie (so kam es mir jedenfalls vor 12 Jahren vor, als wir auf der Heimfahrt hindurchfuhren) sehr langgezogen ohne ein gefühlt echtes Zentrum, ausser vielleicht da, wo – wenn ich mich recht erinnere – zwei Strassen an einem eingekeilten kleinen Friedhof aufeinander treffen und ein paar bunte Häuser sich aneinander reihten… ich muß zugeben ich habe damals nicht so auf die Infrastruktur geachtet, also was es da an Läden usw gab… eher ein bisschen die Umgebung angeschaut im Vorüberfahren… wenn ich ehrlich bin : da fand ich Eyeries schöner… zwar auch superbunt aber das betraf ja alle Wohnhäuser dort, dazu die vielen Blumen …
Hier im stillen schönen Bergland der Galtees, Knockmealdowns und Comeraghs und seinen Tälern gibt es auch Tourismus aber eben nur sehr dezent und zu bestimmten Anlässen zelebriert (St.Declansway zB) und nur wenige „besondere Naturorte“ oder Denkmale der Befreiungsbewegung betreffend. Mir sind in 8 Jahren auf unserer kleinen Pass – Strasse – auf der immerhin auf 100m einer der langen Fernwanderwege Irlands (Avondhu) entlangführt- nur 5x Wanderer begegnet, und ich bin da täglich mehrfach unterwegs, herrlich, einsam…
Unser Dorf unten im Tal, 7km von uns weg, hat ca 320 Einwohner, ist Ort der Vorfahren von Ronald Reagan (was aber keinerlei Rummel verursacht)…
Guck mal ein ca 300 Einwohner Dorf in D an: da findest Du nichts mehr an Infrastruktur, nur noch tote Hose !!!
Hier gibt es in diesem 300 Seelendorf: eine sehr gute Grundschule, eine Post, einen Dorfladen (so einen Mini-Supermarkt), einen Tante Emma Laden, einen Fleischer, eine Garda Station, eine Tankstelle, eine City Hall, eine Physiotherapie, einige Übernachtungsangebote, diverse Vereine und 3 Pubs…
Ich kenne das Überrantwerden und immer schriller, bunter und lauter- Werden aber leider zu gut aus meiner Heimat an der Ostsee- Küste… und deshalb weiß ich sehr genau wie sich „Bereiste“ fühlen… und auch, was der Tourismus aus der einst wunderschönen Landschaft meiner Kindheit machte …
Über Wandgestaltungen kann man trefflich streiten, denn Schönheit liegt wirklich immer im eigenen Empfinden… ich empfinde zumindest die von Dir gezeigten Beispiele als noch ganz annehmbar, es gäbe Schrilleres und Schlimmeres … Möge Glengariff nicht im Massentourismus des WaW verkommen…