091 :: Die Petroglyphenwand im Glanrastel, County Kerry
Hin und wieder, wenn ich an der Entzauberung der Welt leide, gehe ich viele Kilometer im Gebirge, hinauf zu einer der straßenfernsten Landschaften Irlands. Über dem Hochtal von Glanrastel liegt ein gut versteckter Ort, eine Höhle, besser ein Unterschlupf, ein enger Unterstand, der ein jahrtausendealtes Geheimnis hütet. Dort lehnt sich seit dem Ende der letzten Eiszeit eine acht mal fünf Meter große Steinplatte fast aufrecht an einen mächtigen Felswürfel und bildet mit diesem einen geschützten Raum, in dem vier bis fünf Menschen sitzen oder geduckt stehen können.
Die senkrechte Wand des Felsblocks beherbergt das Geheimnis: Auf einer Fläche von sechs auf zwei Metern trägt die Felswand menschengemachte Einritzungen, ein- bis zweitausend, jeweils vier bis 15 Zentimeter lange und ein bis vier Millimeter tiefe Linien. Genau gezählt hat sie wohl niemand. Die meisten dieser schlichten Petroglyphen verlaufen senkrecht und sind in Gruppen angeordnet, manche wurden waagrecht zu diesen eingeritzt. An wenigen Stellen kreuzen sich zwei Linien zu einem X. Am Fels finden sich auch eine Handvoll gerundete oder geschwungene Zeichen und einige ausgeschabte kleine Kuhlen. Diese Gravuren haben Menschen vor etwa 5000 Jahren mit einem V-förmigen Werkzeug, möglicherweise einem behauenen Quarzkeil, in den weichen Sandstein geschabt.
Ich sitze am Boden, über mir das Felsenbild. Es weckt meine Phantasie. Hat hier ein eingesperrter Gefangener seine Tage gezählt? Oder ein Schäfer seine Schafe? Versuchten frühe Siedler sich mit einem Steinkalender in der Zeit festzumachen? Sehe ich den Vorläufer einer Landkarte? Ist das Kunst? Tragen die Symbole einen Sinn in sich, Informationen, die wir heute nicht entschlüsseln können? Steckt hinter den Zeichen, die systematisch auf Grundlinien angeordnet sind, eine frühe Schrift zu einer Sprache, die wir nicht kennen? Ist dies das Werk eines Eremiten oder einer Gruppe, enstand es in einer Menschengeneration oder über mehrere Generationen hinweg? Kannten die Urheber die genaue Zahl der Kerben?
Generationen von Archaeologen haben sich die Zähne an diesem in Irland einzigartigen Ort ausgebissen. Sie können sich lediglich darauf verständigen, was die Zeichenwand nicht ist: keine frühe Ogham-Schrift, keine Gefängniswand, kein Herdenzähler – und wenn die Felsbilder Zeichen eines Ritus oder eines Kultes sein sollten, dann kennen sie diesen nicht. Nur das Alter der Petroglyphenwand gilt als gesichert: Das Menschenwerk in der Felswand stammt aus der Jungsteinzeit und ist älter als alle anderen Rock-Art-Funde in der Umgebung.
Ich sitze am Boden und gebe mir die Antwort selber: Wir wissen es nicht – und es ist gut. Dieser Nachmittag gehört dem Sitzen und Staunen. Dem ungelösten Rätsel, dem gut gehüteten Geheimnis. Die Gedanken im ewig ratternden Gehirn entweichen aus der nach beiden Seiten offenen „Höhle“. Ich respektiere das Rätsel, schaue die Zeichen, genieße das Geheimnis, reise tausende Jahre zurück in der Zeit. Dafür bin ich hier hinauf gestiegen, durch ein Flussbett, durch Hochmoore, Schotter und Sumpf. Als ich aus dem Tagtraum falle, setzt die Dämmerung ein. Ich trage weder Fell noch Leder. Das Mobiltelefon weist mich als Bewohner des 21. Jahrhunderts aus. Der Weg zurück ist weit, ich war daheim und gehe nach Hause . . .
Das Inhaltsverzeichnis in Bildern für ein wachsendes Buch der Tage und der Orte. KLICK.
Alle Fotos: Markus Bäuchle
Ortskoordinaten: ||||||||
Wunderschön, alles … diese Bilder, Deine Worte des Erschauens, die mich ganz gegenwärtig mit hinein nehmen in den (glücklicherweise) weit von unserer gegenwärtigen Zivilisation verborgenen Ort IIIII und in die Ferne der Zeit… Hier ist heute ein ganz grauer Wolkentag… die Wolken liegen in unseren Bergen und verbergen uns so ganz still und einsam vor der Gegenwart der heutigen Zeit. Sehr verlangsamend heilsam, wie Dein Weg und verweilen dort oben in den anderen Bergen der Insel.
Ganz herzlichen Dank Markus für diese Freude