088 :: Zwischenräume und verborgene Wege; Sylvain Tesson
Sur les chemins noirs – Auf dem Weg: Ein französischer Film aus dem Jahr 2023 führte mir gerade in meditativen Bildern und Worten vor Augen, was ich die vergangenen 25 Jahre, seit dem Umzug von Deutschland nach Irland, gemacht habe. Ich bin die verborgenen Wege gewandert, um der Gegenwart zu entkommen. Ich habe die Zwischenräume gesucht und bin sie gegangen. Der Film Auf dem Weg basiert auf dem Buch des schreibenden Abenteurers Sylvain Tesson. Er erzählt die wahre Geschichte Tessons, der nach einer wilden Partynacht betrunken beim Fassadenklettern acht Meter in die Tiefe stürzt und der Querschnittslähmung nur knapp entkommt. Kaum aus dem Koma aufgewacht, beschließt Filmheld Pierre (gespielt von Jean Dujardin) gegen den Rat der Ärzte zur Heilung quer durch Frankreich zu wandern – von der Provence am Mittelmeer im Südosten des Landes, über die Loire an den Atlantik zum Mont Saint-Michel (Fotos). Sein Weg endet nach 1302 Kilometern in der Normandie an den Klippen von La Hague. Er ist geheilt.
Pierre geht weitgehend alleine, er beginnt schwer, langsam, „wie eine alte Frau“, er leidet und zweifelt. In den Abendstunden „fleht sein Rücken um Gnade“. Er geht immer abseits der Straßen und der offiziellen Wege, sucht sich mithilfe von Landkarten aus Papier seinen eigenen Weg querfeldein, über Berge, durch Flüsse und Felder in der Natur abseits der Zivilisation. Er denkt ständig beim Gehen und schreibt die Gedanken auf. Der innere Monolog Pierres beschreibt das Leiden der Erde unter dem Menschen und unser Leiden an der Welt. Die Gedanken sind mir vertraut wie meine eigenen. Hier ein paar Zitate aus der deutschsprachigen Fassung von Auf dem Weg:
:: „Einige von uns Männern hofften, Geschichte zu schreiben, andere wiederum zogen es vor, in der Landschaft zu verschwinden.
:: Mein Heil lag in der Bewegung, und die Bewegung ist von nun an mein Gebet. Schaffe ich die Durchquerung, erlange ich die Erlösung.
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Alle Fotos: Markus Bäuchle
:: Ich wollte die verborgenen Wege nehmen, die die verlassenenen Dörfer miteinander verbinden. Durch Brombeergestrüpp, über Stock und Stein. Es gab immer noch einen verschlungenen Pfad, sofern man Landkarten las, Umwege in Kauf nahm und sich Passagen erzwang. Fernab der Straßen gab es noch ein schattiges Frankreich, vom Lärm geschützt. Ein Land der Stille, der Ebereschen und der Schleiereulen.
:: Die Dinge hatten eine schlechte Wendung genommen. Es wurden immer mehr Menschen. Sie hatten die Welt in Besitz genommen, die Erde zubetoniert, die Täler besetzt, die Hochebenen bevölkert, die Götter getötet, die wilden Tiere massakriert. Sie hatten ganze Generationen ihrer Kinder auf das Land losgelassen und ihre Herden von genmanipulierten Pflanzenfressern. Eines Tages vor 20 Jahren war der Wolf aus den Abruzzen zurück in den Mercantour gekommen. Seitdem stehen auf den Almen Maschinen, die Gewehrschüsse imitieren, um die Pflanzenfresser vor den heimkehrenden Raubitieren zu schützen. Wäre ich ein Wolf, würde ich denken: Fortschritt ist eine Farce.
:: Der freie Raum bot seine versteckten Orte demjenigen dar, der bereit war, vor der Karte niederzuknien. Wenn wir sie öffnen, gibt sie ihre geheimen Pfade preis. Ich träumte davon, die Bruderschaft der verborgenen Wege zu gründen. Mir ging es dabei nicht um ein Netz von Schleichwegen, sondern um Wege, auf denen man der Gegenwart entkommt.
:: Es gibt zwei Arten von Männern, sagte Napoleon. Die, die befehlen, und die, die gehorchen. Heute fragte ich mich, ob Napoleon nicht noch eine weitere Art vergessen hatte: Diejenigen, die fliehen. „Majestät“, hätte ich ihm gesagt: „Fliehen heißt befehlen.“ Zumindest befiehlst Du dem Schicksal, keine Macht über Dich zu haben.
:: Acht Meter reichten, um 50 Jahre zu altern. Aber ich konnte meine Beine wieder in Bewegung setzen. Die Verzweiflung war verflogen. Das Wichtigste hatte ich zurück bekommen: Das Recht, abzuhauen – und die Braut zu erobern, die einen nie enttäuscht: Die Freiheit. An der Luft zu sein, ist mein Schicksal.
:: Die verborgenen Wege zu nehmen, nach Lichtungen zu suchen hinter Brombeer-Gestrüpp, war die einzige Möglichkeit, der Maschinerie der Stadt und der Gefangenschaft toter Bildschirme zu entkommen. Aufbruch bedeutete, eine Bresche in die Mauer zu schlagen. Da ich weder den Narzissmus eines Aktivisten in mir hatte, noch die Wut eines Saboteurs, zog ich die Flucht vor.
:: Bis dahin war ich ein Feind des rückwärts gewandten Denkens. Ich fürchtete, altmodisch zu sein. Nostalgie hatte ich als schmachvolle Krankheit betrachtet. Schlimmer als Leber-Zirrhose, die noch als der Preis für feucht-fröhliche Nächte durchging. Aber jetzt dachte ich: Fortschritt entwickelt sich aus einem Irrtum.
:: Die Wege hatten ihre Aufgabe erfüllt. Durch das Gehen war ich wieder aufgerichtet, noch bevor ich den letzten Schritt getan hatte. Der Mont Saint-Michel löschte den Rest der Welt aus, stützte den Himmel und verbarg vor mir das Meer. Es ist vollbracht, sagte ich mir. Das Schicksal gewährte mir die Gnade, wieder nach Herzenslust zu laufen und unter freiem Himmel zu schlafen, auf lebenswerten Außenposten, auf Felsvorsprüngen, im Unterholz, am Klippenrand.
:: Eine Sache ist mir jetzt bewusst: Man konnte immer noch einfach los marschieren und die Natur durchstreifen. Es gab immer noch Täler, in die man am Tage eintauchen konnte, ohne dass einem irgend jemand die Richtung wies. Und man konnte stürmische Stunden mit Nächten in großartigen Unterschlupfen krönen. Man musste sie nur suchen: Die Zwischenräume. Denn verborgene Wege gibt es noch genug.“
Sehens- und hörenswert: Auf dem Weg (Frankreich 2023; Regie: Denis Imbert)
Ortskoordinaten:48°38’10.4″N 1°30’40.5″W (Le Mont Saint-Michel)
Mien Lieber,
Sehr schön…schwebt mir als wegzeigender Finger voran.
Danke herzlichst
Uwe
:: Eine Sache ist mir jetzt bewusst: Man konnte immer noch einfach los marschieren und die Natur durchstreifen. Es gab immer noch Täler, in die man am Tage eintauchen konnte, ohne dass einem irgend jemand die Richtung wies. Und man konnte stürmische Stunden mit Nächten in großartigen Unterschlupfen krönen. Man musste sie nur suchen: Die Zwischenräume. Denn verborgene Wege gibt es noch genug.“
Vielen lieben Dank Markus, das Buch werde ich mir bestellen, um es in Ruhe (draussen, irgendwo auf einem Stein sitzend oder einem Baumstamm oder am Meer !) zu lesen. Auf genau diese Art sind wir einstmals wochenlang durch Italien gereist…und so habe ich die Natur meiner Kinderzeit durchstreift… Frankreich ist mir (besonders ein Bereich der Pyrenäen) fast wie eine zweite Heimat geworden über Jahrzehnte, wo wir jedes Jahr mehrfach dort waren… und auch damals schon habe ich „meine“ verborgenen Wege nur ganz engen Freunden mal hin und wieder und auch nur bruchstückhaft preisgegeben… sie sollen bleiben was sie sind: verborgen, wild und voll atemberaubender Schönheit gerade auch im Kleinen bei jedem ! Wetter.
Leider braucht man aber auch für solche Unternehmungen wie die von Sylvain schon einen gewissen Grundstock an Vermögen, einen Arbeitgeber der Dich längere Zeit frei stellt und auch das Glück ab und an Menschen zu finden für die man etwas erledigen darf und dafür dort dann Kost und Logis bekommt und warmherzige Einblicke in das Leben in einsamen Gegenden… ein bisschen erinnerte mich das auch an Deinen Beitrag über den Mann der Rückenprobleme hatte und die Bergwanderungen als Heilsamkeit entdeckte (gerade den Namen vergessen)…
Das ich das auch (in viel kleinerem Maßstab als Sylvain) machen konnte verdanke ich vor allem meinen Eltern, die uns (Vater studierte Botanik, Mutter Zoologie) wie „Indianerkinder“ aufwachsen liessen… viel mehr draussen als drinnen, von klein auf lernend, das wir nur stille Gäste im Reich der Tiere und Pflanzen zu sein haben (Prinzip : nicht stören) und die uns lehrten wie man sich geräuschlos fort-bewegt, keine Spuren hinterlässt oder so gut versteckt, dass man fast unsichtbar ist, die uns all die Tiere und Pflanzen vorstellten und auch ins Bewusstsein prägten, dass wir nicht mehr bedeuten als jede Spinne, jeder Busch, das Meer oder ein Käfer… die uns Staunen, Ehrfurcht und Demut lehrten und damit auch Orientierung im Leben und im Draussen (zu jeder Tageszeit) das war essentiell, denn auch die Verbindung zum Kosmos ist ein Zauber den wir brauchen und heil zu sein.