Dublin Riots

“Céad Mile Fáilte – 100.000 Willkommen”
“Ein Fremder ist ein Freund, den Du noch nicht getroffen hast”
(Alte irische Redewendungen, zuletzt im Tourismus-Marketing instrumentalisiert)

Am Abend des 23. November ist das Fantasie-Land der hunderttausend Willkommen abgebrannt. Die Unruhen in Irlands Hauptstadt Dublin haben das Land und die Regierung in eine tiefe Krise gestürzt. Das Selbstverständnis der Inselnation ist in den Grundfesten erschüttert. Mit den Bussen und Polizeiautos in Dublins Innenstadt gingen auch die Illusionen vom irischen Exzeptionalismus und das geliebte Selbstbild von den freundlich-liberalen und fremden-freundlichen Iren in Rauch auf.

Was geschah am Donnerstag, dem 23. November in Dublins Innenstadt?

Um 13:40 Uhr griff ein Mann vor einer Grundschule am Parnell Square eine Gruppe Kinder an. Er stach mit einem Messer auf drei Kinder ein, verletzte ein fünfjähriges Mädchen und eine Betreuerin schwer. Passanten entwaffneten den Mann und schlugen ihn zu Boden. Andere bildeten einen Kreis um den Täter, aus Furcht, er könnte gelyncht werden. Gerüchte über Tat (“Kinder getötet”) und Täter (“Einwanderer”) wurden sofort über die sozialen Netzwerke und über Messenger-Gruppen verbreitet, um Demonstranten zu mobilisieren. Auf Messenger-Diensten wie WhatsApp und Telegram wurde dazu aufgerufen, in die Stadt zu kommen, um Immigranten zu töten, auch um Ausländer, Politiker und Polizisten anzugreifen.

Schnell fanden sich am Tatort etwa 200 Menschen ein, die fremdenfeindliche Parolen riefen.  Die Fakten: Der Täter ist ein 49-jähriger Algerier, der vor 20 Jahren nach Irland kam und eingebürgert wurde. Ein junger Franzose entwaffnete ihn, ein couragierter Moped-Kurier aus Brasilien schlug ihn mit dem Motorrad-Helm zu Boden. Die fremdenfeindlichen Demonstranten: Iren aus Dublin und Umgebung.

Gegen 18 Uhr wurde die Demonstration gewalttätig. Die Aggressionen der Demonstranten richtete sich gegen die lange wehrlos und wie gelähmt wirkende Polizei und die Infrastruktur. Die Gewalttäter zündeten drei Busse, eine Straßenbahn, mehr als ein Dutzend Polizeifahrzeuge und Privatautos an. Sie versuchten zum Sitz der Regierung und zur Wohnung des Premierministers vorzudringen. Die Zahl der Randalierer wuchs auf rund 500 an, zahlreiche Geschäfte wurden aufgebrochen und geplündert. Die Polizei brachte die Lage erst nach vier Stunden unter Kontrolle. Der materielle Schaden geht in die Multimillionen.

Man kannte das selbstgefällige Schulterklopfen vieler Irinnen und Iren, wenn in den vergangenen Jahren in anderen Ländern Europas rechtsextreme Parteien erstarkten oder Neonazis auf den Straßen marschierten. Nein, im liberalen Inselparadies Irland könne so etwas nicht passieren. Jetzt ist es passiert – und es hatte sich angekündigt. Rechtsextreme agitieren seit Jahren in Irland und suchen nach Gelegenheiten, Gleichgesinnte und Anfällige zu mobilisieren. Ausländerfeindliche Demonstrationen, Angriffe auf Asylunterkünfte, zuletzt eine Attacke auf das irische Parlament und einzelne Abgeordnete: Die Polizei übte sich stets in größter Zurückhaltung, die Politiker spielten die Bedeutung der Ereignisse herunter. Jetzt ist die Überraschung groß – und das Bestreben um Distanzierung größer.

Meinungsführer wie der Irish-Times-Kolumnist Fintan O’Toole beeilten sich, die Gewalttäter als Verbrecher, Schläger, als Drecksäcke und Abschaum zu titulieren, mit denen man, das gute Irland, nichts und rein gar nichts zu tun habe. Es wurde insinuiert, die rund 500 gewalttätigen Landsleute (eventuell waren auch ein paar plündernde Nicht-Iren darunter) seien aus dem Nichts gekommen, vom Himmel gefallen – beziehungsweise aus der Hölle hervor gekrochen.  O’Toole machte sogar den grotesken Versuch, den Zusammengang zwischen sozialer Lage und Gewalt mit dem Argument zu bestreiten, Faschisten habe es in Dublin schon immer gegeben.

Das Wegschauen und Schönreden hat einen hohen Preis

Auch wenn es nicht passieren wird: Die Regierung müsste sich ehrlich und eingehend mit der Frage beschäftigen, warum Landsleute Mobs bilden, warum sie schlagend, brandschatzend und plündernd durch Dublins Innenstadt ziehen. Die irische Gesellschaft ist nicht in der Balance und anfällig für derlei Eruptionen der Gewalt. Sie hat sie selber geschaffen. Die Spaltung der Gesellschaft in Wohlhabende und immer mehr von Armut bedrohte Menschen, die gravierende Wohnungsnot und die Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen, der Zerfall der öffentlichen Ordnung, die völlige Abwesenheit von aktiver Integrationsarbeit für die fast 100.000 Menschen, die vor dem Krieg in ihrer ukrainischen Heimat nach Irland flüchteten –   die Politik scheint machtlos oder unwillig, die Zukunft zu gestalten. Sie versagt.

Es ist zu befürchten, dass Irland für das jahrelange Wegschauen, das Schönreden und Verdrängen einen hohen Preis zahlen wird: Das schöne Image vom Paradies der 100.000 Willkommen ist abgefackelt. Fremde auf der Insel spüren oft nichts vom Marketinggeschwafel von der viel beschworenen Freundlichkeit oder gar Freundschaft. Menschen anderer Hautfarbe, jetzt vor allem Leute aus dem Maghreb, haben Angst, auf die Straße zu gehen; Muslime fürchten um ihre Sicherheit. Ukrainerinnen fragen sich besorgt, wie lange sie hier noch gelitten sind.  Wie wohl sich Touristen in diesem Umfeld fühlen werden?

Vor allem Dublin hat am Abend des 23. November weltweit dramatisch an Sympathie und Wertschätzung eingebüßt. Dabei waren die Ausschreitungen nur das sichtbare Fanal der massiven Probleme, in der die Hauptstadt steckt. Dublin ist eine Großstadt in der Krise, die sich bis heute von den Verheerungen der Pandemie-Jahre nicht erholt hat. Die Journalistin Una Mullally, eine intime Kennerin der Stadt, war nicht überrascht von den Ausschreitungen. Sie schrieb in der Irish Times:

“Dublin ist zerbrochen: Am Abgrund, führungslos und von der Regierung im Stich gelassen . . .

Auch ohne rechtsextreme Agitation ist Dublin in vielerlei Hinsicht zerrüttet und gedeiht in anderer Hinsicht. Es gibt keine übergreifende, einfache Erzählung, aber es gibt die Realität der Nervosität, des städtischen Verfalls, der durch die Pandemie noch verstärkt wird, des sozialen Stresses, der durch die Wohnungskrise noch verstärkt wird, und der offensichtlichen völligen Desillusionierung unter einigen jüngeren Männern, die loslegen werden, wenn der Funke überspringt . . .

. . . Es ist schließlich eine Stadt, aber die Realität ist, dass die Stimmung immer düsterer geworden ist. Es herrscht Not, die Menschen sind verzweifelt, und es herrscht ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Es gibt aber auch Reichtum, Spaß und Freude. Alles, überall, auf einmal.

Ich bin zermürbt von dem Versuch, die systemischen und strukturellen Probleme innerhalb des ausfransenden Gewebes des städtischen Ökosystems aufzuzeigen. In Dublin gibt es keine echte Führung. Die Stadt wurde von der nationalen Regierung praktisch im Stich gelassen und ist durch das Fehlen eines kohärenten Zukunftsplans der lokalen Regierung steuerlos.

Die Unternehmen, die Dienstleistungen für die Schwächsten und Ausgegrenzten, die Infrastruktur und viele Menschen, die mit bitterer Armut konfrontiert sind, sie alle haben schwer zu kämpfen.

Als die Unruhen am Donnerstagabend abebbten, erkannte ich wieder, dass es keine einzige offensichtliche, glaubwürdige Führungspersönlichkeit gibt, die die Autorität und das nötige Gefühl der Verbundenheit besitzt, um für oder mit der Stadt Dublin zu sprechen. Dies ist ein großes Versagen. Aber es ist keine Neuigkeit.

Wenn ich etwas gelernt habe, als ich versucht habe, die seltsame Nervosität, die rechtsextreme Aggression und das Potenzial für unkontrollierte Gewalt in Dublin aufzuzeigen, dann ist es, dass niemand, der die Autorität dazu hat, genug getan hat. Das hat sich abgezeichnet. Geschäftsinhaber, mit denen ich am Freitag sprach, benutzten dieselbe Terminologie: Zunderbüchse, Dampfkochtopf. Wir haben die Brandstiftung, die Gewalt, das Gebrüll, die Wut gesehen. Die Leute haben vor der extremen Rechten gewarnt und davor, dass Dublin nie von der Pandemie “zurück kam” . . .

. . . Wie viele Dubliner war auch ich am Donnerstag schockiert. Aber ich sage Ihnen, was ich nicht war: überrascht.”

Noch gibt es in Irland keine ultrarechte Partei, die fremdenfeindliche, rassistische, antidemokratische und autoritäre Positionen auf der großen politischen Bühne repräsentiert. Das kann sich nun aber schnell ändern, wenn Gewalt-affine Figuren wie der weltweit bekannte und populäre irische Mixed Martial Arts-Kämpfer Conor McGregor Ernst machen und – ermuntert von zwielichtigen Businessgrößen wie Elon Musk – in den politischen Ring klettern. McGregors zum Teil wieder gelöschte Tweets der vergangenen Tage werden derzeit vom Staatsschutz akribisch analysiert. Die große Frage ist dann: Wie verführbar würde die irische Gesellschaft sein? Wie große Resonanz hätte eine solche Partei in der Bevölkerung?

Das betörend wirkende Lied hatte schon lange Misstöne

Das lange betörend wirkende Marketing-Lied von der Fremden-Freundlichkeit der Irinnen und Iren hatte für feine Ohren schon in den letzten Jahrzehnten Misstöne. Keine andere Gesellschaft in Europa musste sich so schnell und massiv  – und dazu politisch schlecht moderiert – mit dem Fremden auseinandersetzen und sich an die Fremden gewöhnen wie die irische. Vor 50 Jahren gab es in einem weitgehend isolierten Irland fast keine Ausländer, Zugezogene, Immigranten, Geflüchtete oder Asylsuchende. Heute liegt der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung bei über 13 Prozent. Alleine seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine vor 20 Monaten kamen annähernd 100.000 Geflüchtete auf der Suche nach Sicherheit nach Irland. Um gleich zu ziehen, müsste zum Beispiel Deutschland 1,6 Millionen Menschen aufnehmen.

Wer weniger dem konstruierten Image und dafür der eigenen Erfahrung und den persönlichen Gesprächen vertraut, der weiß, wie schwer sich viele Menschen hier auf der Insel mit dem Fremden bis heute tun – wie der ritualische Gesprächsfaden eines jeden Kennen-Lernens geradlinig um die klare Einordnung des Gegenübers ringt und um das schnelle Feststellen von Gemeinsamkeiten, von Vertrautem und Teilbarem bemüht ist. Man möchte das Fremde als das Vertraute erkennen. Was aber, wenn es wenig Gemeinsamkeiten gibt? Selbst Irinnen und Iren, die nach Jahren im Ausland  in die alte Heimat zurück kehren, können davon ein Lied singen – ein garstiges Lied bisweilen, das von den Fremden im eigenen Land.

Hoffen wir deshalb, dass sich die allermeisten Menschen im wirklichen Irland der 20-er Jahre des 21. Jahrhunderts als so menschenfreundlich, liberal, demokratisch und gastfreundlich erweisen, wie sie es sich immer schon von sich gewünscht haben. Dass das Fantasie-Irland der hunderttausend Willkommen am 23. November 2023 in Dublins Straßen abgefackelt wurde, ist auch eine Chance.


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Foto: Unruhen in Dublin am Abend des 23. Novembers 2023. Ein brennender Bus. Quelle: Wikipedia.