Uralte irische Landschaft

Uns geht es so gut wie nie zuvor, und es geht uns schlecht wie selten. Krisen, Krisen, Krisen, menschen-gemachte Zerstörung überall. Wir haben es nicht gut hin bekommen. Ich habe viele Antworten darauf gelesen, warum die Menschheit, “Krone der Schöpfung”, sich nun mehr und mehr als scheiternde Spezies erkennen muss. Die wahrscheinlich richtige ist, dass wir uns – vor allem in der westlichen Zivilisation – in eine spirituelle Existenzkrise manövriert haben. Wir haben uns die Erde untertan gemacht. Wir sind irgendwann falsch abgebogen auf den schnurgeraden Pfad der praktischen Vernunft. Wir sind aus der Welt gefallen und haben die Verbindung zur Natur verloren.

Nun rasen wir auf Autopilot dem Abgrund entgegen. Wir belügen uns noch eine Weile mit vermeintlich grünen Weiter-so-Phantasien von Grünem Wachstum bis zum Green New Deal. In spätestens zwei Jahrzehnten werden auch der letzte Realitäts-Leugner und die letzte Kopf-in-den-Sand-Steckerin an der unbequemen Wahrheit jedoch nicht mehr vorbei kommen. Wir werden kollektiv wissen: Wir haben es vermasselt.

Im Irland der 80er Jahre war die alte unzerstörte Welt, als ich sie kennen lernte, noch nicht gänzlich verschwunden, die Spaltung von Mensch und Natur, von Mensch und Land nicht so radikal vollzogen wie auf dem Kontinent. Ein Mangel an Gelegenheit, wie sich herausstellen sollte. Wie in Schallgeschwindigkeit entledigten sich die Leute hier ihrer Wurzeln, ihrer Werte, ihres in ein totalitäres Kirchensystem verankerten Glaubens, und ihrer Verbindung zum Land – all dies in nur wenigen Jahren. Viele wurden materialistisch, wohlhabend, gierig, nimmersatt, auch orientierungslos und innerlich leer. Die spirituelle Insel am westlichen Rand Europas, von der einst eine bunte, pantheistische, nicht-römische Christianisierung ausgegangen war, beugte sich im Namen des materiellen Wohlstands dem Hyperdruck einer entfesselten Wirtschaft. Nach der Millenniums-Wende verkörperte Irland die spirituelle Krise des Westens wie kein anderes Land in Europa.

Uralte Landschaft

Vorgestern noch Landschaft, gestern Bauland, heute Menschen-Siedlung. Bei Spiddal

Wo Landschaft nur noch als Bauland und Viehfutter wahrgenommen wurde, das Rind als vierbeiniger Container von Filets und Braten, das Schwein als Frühstücksschinken, wo der Baum in Kubikmeter Bauholz betrachtet und das Wasser als Müllabfuhr geschätzt wurde, wo sich das Naturerleben auf ein Sonnenbad auf dem Zierrasen reduzierte, da war der Mensch auch in Irland aus der Welt gefallen, war das Band zum Land zerschnitten, die Göttlichkeit und Heiligkeit der Natur nicht mehr wahrnehmbar. Bis heute beherrscht der materialistische Totentanz Mensch und Tier, Pflanzen und Land zwischen Irischer See und Atlantik.

“In Irland entsteht gerade etwas Großes”

Genau hier, im Epizentrum des scheiternden Global-Kapitalismus, auf spirituell komplett verbrannter Erde, tut sich nun seit einiger Zeit Erstaunliches. Unbeachtet von den Vielen wächst in vielen Nischen ein neues Bewusstsein. Junge und ältere Menschen versuchen, sich wieder mit dem Land zu verbinden, mit ihrer alten Kultur und ihren großen Mythen. Sie fragen sich, wer sie sind und woher sie kommen. Auf der Suche nach innerem Leben und spiritueller Geborgenheit gehen sie zurück hinter die dunklen Zeiten der katholischen Kirche und die Jahre der Leere. In Druiden- und Heckenschulen lernen sie alte und neue Rituale, um sich wieder mit dem Land zu verbinden.

Zum St. Patrick´s Day, dem irischen Nationalfeiertag am 17. März, trafen sich junge Leute abseits von Pubs, Pints und Paraden, um in Retreats die Rückkehr der Schlangen zu feiern. Die Schlange symbolisiert die alte keltische Energie der Wiedergeburt, des neuen Lebens und des Wissens. St. Patrick hatte das keltische Symboltier Schlange, das in der christlichen Schöpfungserzählung zur teuflischen Verführung des Menschen umgedeutet wurde, von der Insel Irland vertrieben. Die zahlreichen Marien-Statuen im Land zeigen die verehrte Heilige oft mit einer zertretenen Schlange unter ihren Füßen. Nun heißen junge Irinnen und Iren in ihren Ritualen die Schlangen in Irland wieder willkommen.

Der irische Öko-Philosoph und Mystiker John Moriarty wird 17 Jahre nach seinem Tod erstmals von einem breiten Publikum entdeckt. Moriarty* hat wie kein anderer vor und nach ihm das Scheitern des Menschen beschrieben und gleichzeitig Wege vorgelebt, um uns vor der endgültigen Zerstörung zu retten. Er mahnt uns in seinen Büchern und Vorträgen zur radikalen Veränderung unserer Wahrnehmung. Er sieht uns gefangen in fatalen Gedankenkonzepten, in den Zwängen westlicher Kulturprägung und unerbittlicher Sozialisierung. Moriarty ermuntert uns, durch die Oberfläche der konzeptionell konfigurierten Welt hindurchzusehen und die Dinge zu sehen, wie sie sind – und uns wieder mit dem Land zu verbinden. Er sieht uns innerlich sterben, wenn wir die Wildnis außerhalb von uns zerstören. Wie es uns gelingen kann, sich konzeptions- und illusionsfrei mit der Natur zu verbinden, deutet Moriarty in Sätzen wie diesen an: Übe Dich darin, ein stehender Stein zu sein; still zu stehen, nicht zu denken, dich nicht zu bewegen, was eine besondere Art der Meditation ist, aber eine, die die Subjekt-Objekt-Beziehung reduzieren oder aufheben könnte. Lasse Dich in der Natur nieder und nehme einfach wahr. Das Land wird zu Dir sprechen. Denke mit den Bergen, nicht über sie  . . .

Diesen Gedanken hat der irische Autor Manchán Magan zum Titel eines Buches gemacht, das in Irland ein Bestseller ist: Listen to the Land Speak (Gill 2022). Höre das Land sprechen, höre, wie es spricht, was es sagt. Magans magische Erkundungsreise in die uralte Landschaft Irlands begeistert die LeserInnen genauso wie sein Erfolgsbuch Thirty-Two Words for Field – eine tiefsinnige Betrachtung über die vergessenen und verlorenen Worte für die irische Landschaft.

Kürzlich war Manchán Magan zu Gast in der Fernseh-Talkshow des irischen Kult-Comedian Tommy Tiernan und löste mit seinen Statements einen kleinen Sturm der Begeisterung und einen großen der Verständnislosigkeit aus. Magan sieht zu seiner eigenen Überraschung in Irland gerade “etwas Großes entstehen”. Zahlreiche junge Menschen würden sich gerade neu mit der alten Kultur und mit dem Land verbinden. Sie würden entdecken, dass es zu unserer eingeschränkten kleinen Wirklichkeit andere, größere Wirklichkeiten gebe, die er The Otherworld oder Other Realms nennt. Die Weisen und Stammesältesten der First Nations in Australien, Kanada und den USA schauten gebannt und voller Hoffnung auf das, was gerade in Irland entsteht. Manchán Magan nannte als für Alle offensichtliche Indizien, dass unser Bewusstsein große Fortschritte gemacht hätte, dass uns etwa das Tierwohl oder die Sauberkeit unserer Flüsse wichtig geworden seien.

Ein sympathisierender Tommy Tiernan merkte feinsinnig an, über derlei Dinge könne man eigentlich nur fühlen und nicht sprechen. Das TV-Gespräch löste bei den Vielen Belustigung oder gar Missbilligung aus. Magan sei ein Träumer, nicht ganz von dieser Welt, hieß es. Das mag stimmen, auch wenn es nicht so gemeint war . . .

 


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* In einer neuen Irlandnews-Serie stelle ich im Lauf der kommenden Monate Leben und Werk von John Moriarty hier vor: KlicK

Fotos: Markus Bäuchle

Das alte Irland verschwindet

Wird die Zerstörung ein Ende haben?