Mit knapp 90 Jahren begann Richard N. Hutchins noch einmal ein neues Leben — und knüpfte als alter Mann an seine Kindheit an. Im Weihnachtsschreiben teilte er seinen Freunden und Verwandten mit, dass er beschlossen habe, nicht vor dem Fernseher in seiner Wohnung im englischen Bedford zu sterben, sondern viel lieber in seinem geliebten Wald im irischen Familiensitz Ardnagashel in West Cork, Irland. Gesagt getan: Im Jahr 2005 zog Dick, wie ihn seine Freunde nannten, zurück nach Ardnagashel, an den Ort, wo er im April 1915 in eine anglo-irische Familie hineingeboren worden war, und den er mit der verwitweten Mutter und seinen beiden Schwestern im Jahr 1921 als Sechsjähriger in den Wirren des irischen Unabhängigkeitskrieges verlassen hatte.
Rückkehr 2005: Von dem einst stolzen Estate der Hutchins war der Familie nur ein kleinerer Teil im Osten des Anwesens geblieben. Das einstige Herrenhaus war zum Restaurant geworden, im Jahr 1968 abgebrannt und einem schlichten Ferienhaus im Eigentum einer Immobilien- und Ferienhausfirma gewichen. Der Rückkehrer Dick sah seine letzte große Aufgabe in der Pflege des verbliebenen Myrtenwaldes — des größten in West-Europa — und des herrlichen Fußweges entlang der Küste: Er zog in einen alten Wohnwagen am Horseshoe Strand direkt am Meer, wo er lebte, studierte und plante. Das Oberhaupt der anglo-irischen Hutchins-Familie liebte es, in Familienpapieren zu forschen, Landkarten zu studieren, Pflanzen-Bestimmungsbücher zu wälzen, Tiere zu beobachten, Wege anzulegen, Wegweiser zu malen und in seinem geliebten Wald zu arbeiten. Fortan sah man ihn oft im Blaumann im Myrtenforst arbeiten, nicht selten auf allen Vieren und mit vollem Einsatz der verbliebenen Kräfte eines über 90-Jährigen. Einen ersten Schlaganfall steckte er mühelos weg, einen weiteren dann weniger gut. Dick starb im Januar 2013 mit knapp 98 Jahren — nicht in seinem geliebten Wald, im Haus seiner Tochter auf dem Land bei London.
Heute wäre Richard N. Hutchins 100 Jahre alt geworden. Es hat nicht viel gefehlt. Sein Geburtsjahr aber war in mehrfacher Hinsicht ein Schicksalsjahr und ein schwerer Beginn: Eine Woche vor seiner Geburt starb der Großvater, der alte Familien-Patriarch Samuel Newburgh Hutchins. Und nur zweieinhalb Wochen nach seiner Geburt starb sein Vater: Der Reserve-Offizier Richard Hutchins war auf dem Weg in die Schlacht von Gallipoli in der Türkei. Sein Leben endete am 15. Mai 1915, einen Tag vor der Einschiffung in den Weltkrieg, in einem Hotel in Cork City. Nur zwei Tage zuvor war Richards Bruder Thomas, also Dicks Onkel, kämpfend auf dem Schlachtfeld in Gallipoli gefallen. So wuchs der kleine Richard vater- und großvaterlos und ohne männliches Vorbild auf.
Dass die Familie im Jahr 1921 schließlich die Flucht ergriff, hat unter anderem am Fehlen einer männlichen Führungs- und Schutzfigur in Ardnagashel gelegen. Doch es gab gravierendere Gründe: Immerhin hatten die Hutchins seit dem späten 18. Jahrhundert im Bantry House (damals Seafield House), im Ballylickey House und ab 1801 im Ardnagashel House inmitten großer Armut ein privilegiertes Leben geführt, und sie hatten über das Wohl und Wehe zahlreicher irischer Familien bestimmt. Trotz ihrer im Vergleich mit anderen englischen Landadeligen eher humanen und hilfreichen Art, konnten die Landlords von Ardnagashel in den Jahren des irischen Unabhängigkeitskampfes nicht mit allseitigen Sympathiebekundungen rechnen.
So lebte Richard N. Hutchins sein Leben zwischen den Jahren 1921 und 2005 überwiegend in England. Dick verschrieb sich als Anwalt dem freien Zugang zum Land und dem Schutz der öffentlichen Wegerechte, das heutige öffentliche Wegerecht in England geht maßgeblich auf ihn zurück. Er war ein begeisterter Bergwanderer und Radfahrer und er baute die Jugendherbergs-Bewegung in England und Irland mit auf. Den Weg von London nach West Cork bestritt er gerne dem Fahrrad. Den roten Eichhörnchen konnte er stundenlang entzückt zusehen. Das Horten seltener Pflanzen, etwas der uralten australischen Baumfarne, war ihm ein großes Vergnügen. Und ganz nebenbei rettete er im hohen Alter den Baumpark seiner Kindheit, das Ardnagashel Arboretum, vor profit-fixierten Immobilien-Spekulanten.
Wir mochten Richard sehr, weil er unkonventionell, beherzt und tief naturverbunden war. Zum heutigen Geburtstag möchte ich an Dick´s späten Leitspruch erinnern: „Reflect on the past. Live in the present. Plant for the future.“ Über die Vergangenheit nachdenken. In der Gegenwart leben. Für die Zukunft pflanzen. Ein weiser Spruch.
Mitte Mai 2015 — 200 Jahre nach dem Tod seiner bekannten Großtante, der Botanikerin Ellen Hutchins, und 100 Jahre nach dem Tod seines Großvaters, seines Onkels und seines Vaters — wird Dick ein letztes Mal nach Ardnagashel zurück kehren: Seine Asche wird, wie es sein Wunsch war, auf dem kleinen Familienfriedhof im Wald von Ardnamanagh am Grenzzaun zu Ardnagashel beigesetzt.
Mehr Informationen über Ardnagashel und die Familie gibt es hier: www.ardnagashel.com
Fotos: privat; Markus Bäuchle (2, oben); Eliane Zimmermann (unten).
Danke Markus und Eliane, es ist ein sehr schöner Bericht! Ich erinnere mich so gern an meine Botanikreise vor einigen Jahren bei Euch und den bis heute, als sei es gestern gewesen, gebliebenen, wunderschönen Eindruck in Ardnagashel Estate..mein Herzentzücken, wenn Sonnenlicht auf die Mrytenstämme fiel und das Regenwasser am Stamm des Eukalyptusbaumes niederfloss.., ..ganz herzlichen Gruß zu Euch auf die grüne Insel, marta
Hallo Marta, das war eine sehr schöne Woche, an die ich mich auch gerne erinnere. Gruß, Markus
Eine beeindruckende Persönlichkeit. Allein seine letzte Lebenszeit ringt einem Achtung ab.
Ich war am Freitag in Ardnagashel, auf der Rückfahrt aus Kerry. Der Friedhof ist oberflächlich gerodet, also alles was da gewuchert hatte abgeschnitten. Die Tanne steht frei. Die Grabplatten und Steine sind relativ gut zu sehen. Das hat mich gewundert, jetzt weiß ich warum. Ich dachte noch, jetzt wird dieser kleine Friedhof im Dickicht wohl endgültig vergessen werden. Vielleicht ja doch nicht, wenn Richard auch noch dort liegt. Es wäre wirklich schön, wenn wenigstens dieser Ort erhalten bliebe und gepflegt würde. Auch wegen Ellen…
Liebe Grüße auf die Insel
Elisabeth