Unterwegs in den Bergen Irlands. Die Offenbarung von Heiligkeit, Gelassenheit, Verlorenheit und Weite . . .

Patrick Steinbach. Der Musiker, Musiklehrer, Experte für irische Musik war vor einiger Zeit in den Bergen Irlands unterwegs und dieses intensive Natur-Erlebnis im Heimatland seiner Mutter in einem Beitrag beschrieben. Patrick, der Lesern von Irlandnews als Autor der Musik-Tipps Patricks Music Corner  bekannt ist, hat auch ein Buch geschrieben über seine Reise durch Irland.  Fahrtwind,

Hier der Buchauszug über sein Erlebnis in den Bergen Irlands:

 “Wolken ziehen über meinem Kopf dahin. Der Wind hebt an und wird stärker. Er macht ein Geräusch wie weit entferntes Pfeifen. Der Untergrund ist weich und feucht. Ich laufe durch knöchelhohes Gras vorbei an Büschen mit dicken fleischigen Blättern, die am Rand gezackt sind. Ein paar windschiefe Bäume stehen herum wie umgefallene Grabsteine. Neben mir plätschert ein Bach. An seinem Verlauf werde ich mich orientieren. Wasser fließt immer nach unten. Es kommt also von oben. Dort muss ich hin. Ganz einfach. Eine massive Wand aus grünen, braunen und grauen Gegenargumenten steht mir im Weg. Es sind durchaus lebendige Argumente da vorne. Sie bewegen sich. Aber bei genauerer Betrachtung sind es nur Felsen, Heidekraut und ungefähr 35 Prozent Steigung.

 Immer auf die nächsten paar Meter richte ich meinen Blick. Grünes Gras und graue Steine. Behutsam will ich sein. Ruhig will ich es angehen. Ich achte auf meinen Atem und steige über kleine Büsche und Farne hinweg, ohne einen Halm umzuknicken, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ich orientiere mich immer an den Steinen. Dort ist es meistens trocken. Meine Hosen streifen nasses Gras. Ich klettere entlang eines von Regen und Wasser ausgewaschenen Weges aus Geröll und flachen Kieseln. Ein von den Gezeiten und der Erosion geschaffener, natürlicher Rinnsal, der sich ideal zum Hochklettern eignet. Ich finde etwas Sicherheit in der Vorstellung, ich wäre ein Schaf oder besser noch eine Bergziege. Diese Tiere sind unverwüstlich und absolut schwindelfrei. Sie laufen und hüpfen einfach so durch die Gegend als würde ihnen weder Wind noch Wetter noch irgendwelche Steilhänge etwas ausmachen. Zu gerne würde ich mich jetzt in ein Schaf oder in eine Ziege verwandeln. Der Aufstieg ist mühsam. Vorsichtig setze ich einen Schritt nach den anderen. Dann sehe ich weiter oben einen Felsvorhang. Ich laufe durch eine dampfende und tropfende Flora als wäre ich auf einem fremden Dschungelplaneten. Die herunterhängenden Äste eines verkrüppelten Baumes sehen aus wie Lianen, erstarrte Schlingpflanzen, die nur auf eine kurze Berührung warten, um zum Leben erweckt zu werden.

 Im Schatten des mächtigen Felsen bekomme ich kurz Beklemmungen. Ich pirsche an der Seite vorbei, als könnte ich mich so besser vor den Ungeheuern verstecken, die auf der anderen Seite auf mich lauern. Der Felsen ist hoch und wirkt bedrohlich. Ich komme mir vor wie ein Miniaturwesen in einer Dinosaurierwelt. Dann steige ich über einen hüfthohen Stein, laufe an dem großen Felsen vorbei und stehe auf einer kleinen mit Schilf bewachsenen Ebene. Es ist nur ein kleiner Talabschnitt, der schon bald wieder zu einem Berghang führt. Hier und da tritt der Bach über sein Ufer. Ich kann nicht genau sagen, ob es noch ein Bach oder schon eine Sumpfwiese ist. Ich sollte einen etwas größeren Bogen um die Stelle machen.

 Der Boden, auf dem kein Gras wächst, ist dunkel und morastig. Ich hüpfe von einem Stein zum nächsten, taste mit meinen Augen die Umgebung ab und versuche ein Gefühl dafür zu bekommen, wo ich am besten langlaufe. Es ist total still. Nur mein eigener Atem zeugt von meiner Existenz.

 Welch niederschmetternde Ruhe. Welch unendliche Gelassenheit gegenüber deinem Schicksal hier draußen. Welche Verlorenheit. Welch alles umarmende Weite.

 Es gibt Berge in Irland, die sich scheinbar stets in Wolken hüllen.

 Die Wolken machen die Berge in Irland irgendwie noch heiliger. Als dürften wir nie erfahren, wie hoch sie wirklich sind. Als dürften wir den erhabenen Ort nicht sehen, an dem die Tafeln überreicht werden.


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Sie verhüllen nicht nur den Übergang zwischen Himmel und Erde. Sie reiben sich auch an seinem Rücken wund und weich und nehmen ein Stück seiner Geschichte mit ins Tal. Doch wir Idioten. Wir spannen unsere Regenschirme auf und lassen alles an uns abperlen. Wir wollen nichts mehr davon wissen, was sich dort oben einstmals abgespielt hat. Noch immer. Sie tun es immer noch für uns. Man muss schon dort hinaufsteigen, um einen ungetrübten Blick ins Tal zu werfen. Um es wirklich zu erleben, müssen wir dort rauf. Von hier unten sehen wir es nicht.

 Der irische Torf und die göttliche Weite, durch die ich jetzt ohne dich laufe, trösten mich. Dieses Stückchen Irland, dieses Stück Vergangenheit, das ich einstmals mit dir teilte, ist das Einzige, dem ich noch vertraue. Meine Welt schrumpft zusammen auf die wichtigsten Parameter meiner Urinstinkte. Der Anker ist geschmolzen. Ich stehe im Hier und Jetzt und betrachte dieses tief lilafarbene Heidekraut mit seinen unzähligen feinen kleinen Stacheln. Ein kurzer Regenschauer lässt mich innehalten. Überall höre ich kleine Rinnsäle und Tröpfchen, ein tausendfaches Plitsch und Platsch, ein Gurgeln und ein Schlucken. Das Plätschern des Bachs und der Regen, der auf übervolle Pfützen prasselt, vermengen sich zu einer sprudelnden Sinfonie. Der Wind peitscht Wellen über das Gras. Es brennt ein wenig im Gesicht. Es gibt hier draußen keinen Platz zum Unterstellen, keine Fluchtmöglichkeiten. Deshalb versuche ich den Schauer zu ertragen.

 Der Regenguss zieht genauso schnell vorüber wie er gekommen ist. Die Wolkendecke reißt auf, und für einen kurzen Augenblick kann ich sogar das Meer in der Ferne sehen. Das Wetter wechselt so schnell, so schnell kann man seine Regenjacke gar nicht an und wieder aus ziehen. Dann schließt sich der Nebel wieder um mich. Mit ruhigen Schritten steige ich den Berg hinauf. Vorbei an Moos bewachsenen Felsen, die aussehen wie verloren gegangene Dinosaurierzähne. Niedrige Dornenbüsche versperren mir den Weg. Ich laufe einen großen Bogen von vielleicht hundert Metern.

Ein paar Schafe, die hinter einem großen Stein liegen, springen sofort auf und rennen davon, als ich ihnen zu nahe komme. Es sind die einzigen Lebewesen, die mir auf meiner Wanderung begegnen. Ich erspähe einen Felsvorsprung, den ich mir als nächste Wegmarkierung aussuche.

Die Wolken in Irland sind ein Geschenk des Himmels.

 Sie verbinden den Himmel mit der Erde. Sie sind ein ganz eigenes Element. Nicht fest, nicht flüssig, nicht bloß Luft und auch kein Rauch. Wolken geben dir immer die Gewissheit, dass es noch mehr gibt als wir mit den bloßen Augen sehen können. Weil niemals eine Wolke genau der anderen gleicht. Und weil wir nicht durch sie hindurchschauen können. Die Wolken sind das eigentliche fünfte Element.

Die irischen Berge münden meistens nicht in einem Gipfel sondern in einer etwas höher liegenden Fläche. Es ist ein Areal, wwelches oben auf dem Massiv thront und seit Ewigkeiten auf dich wartet. Hier oben entsteht der Wind, den du unten im Tal dann spürst als Brise oder Fahrtwind. Manch irischer Berggipfel scheint wie eine Landebahn für prähistorische Wettergötter.

Wenn man die letzten paar Meter eines Berges erklimmt, kommt man in einen unbeschreiblichen Zustand. Lange schon vorher habe ich an meiner eigenen Ausdauer gezweifelt, musste immer häufiger kleine Pausen einlegen. Aber immer wenn ich einen neuen Grat erklommen habe, immer wenn ich es ein Stückchen höher geschafft habe, bin ich ein wenig glücklicher als zuvor. Ich schaue nach unten in das Tal und kann einen stetig wachsenden Ausschnitt dieser zauberhaften Landschaft erblicken. Ich bin getrieben von der vagen Hoffnung, endlich bald das ganze Bild zu sehen. Immer wieder ziehen Nebelschwaden vorüber und trüben die Sicht. Eine irrsinnige Weite herrscht hier oben. Ich setze mich auf einen Stein. Hier oben so mutterseelenalleine auf einem Felsen zu sitzen und scheinbar die ganze Welt zu seinen Füßen zu haben, das hat schon etwas Göttliches.

Die langgestreckten Wiesen sind von Heidekraut und kleinen Dornenbüschen übersät. Langsam bekomme ich das Gefühl, dass es nur noch eine Zeit gibt. Ich komme immer mehr davon ab, länger über all das nachzudenken, was ich zurückgelassen habe. Immer öfter erwische ich mich, wie ich scheinbar minutenlang vor mich hin auf einen Felsen schaue, wie sich der Blick am Horizont verfestigt, wie der Moment Löcher bohrt ins Davor und Danach.

Wie die Gedanken verschwinden und immer weniger werden. Alles reduziert sich auf das Wesentliche und auf das Ruhige, was hinter den Dingen steckt. Eine unwahrscheinliche Dichte der Eindrücke. Du bist allein und aufgehoben in deinem ureigenen Schmerz, den niemand besser verstehen wird als die dich überall umgebende Weite.”

Wer hat Lust, seine Erlebnisse in Irland hier auf Irlandnews ebenfalls zu veröffentlichen? Mail an markus@irlandnews.com

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