In der wilden Natur Irlands

In der wilden Natur Irlands

Irlandnews.comKennen Sie diese kleinen Wunder im Alltag? Zum Beispiel, welchen Unterschied 500 Meter Höhe und zehn Kilometer zu Fuß machen. Es ist der Unterschied zwischen besorgt und sorgenfrei, zwischen blockiert und befreit, zwischen bedrückt und glücklich sein — und auch der zwischen ratlos sein und verstehen. Was soll das, fragen Sie? Der Reihe nach.

Seit wir das Vergnügen einer neuen SPIEGEL-Chefredaktion und des neuen Erscheinungstags Samstag haben, schaue ich wieder öfter in das Magazin, das neuerdings mit dem Claim Keine Angst vor der Wahrheit für sich wirbt. Die Titelgeschichte lässt aufhorchen: Noch neun Monate bis zur nächsten Weltklima-Konferenz und der SPIEGEL schickt schon jetzt wie aus dem Nichts zwischen Europakrise, Ukraine-Krieg und dem Kampf der Kulturen einen Beitrag über den desolaten Zustand unseres Planeten ans Licht der Öffentlichkeit: Der verheizte Planet. Wie die Gier nach Wachstum unser Klima zerstört.  Mich verwundert seit langem, dass das mit Abstand größte Problem, mit dem wir Menschen konfrontiert sind, nicht jede Woche an erster Stelle der politischen und medialen Tagesordnung steht — in Wahrheit aber können wir froh sein, ganz ab und zu wieder einmal erinnert zu werden, dass die  Menschheit weiterhin ungebremst auf eine dramatische ökologische Katastrophe zusteuert, dass wir mit unserem Wachstumswahn gerade die Lebensgrundlagen unserer Kinder und Enkel zerstören — und dabei so tun, als würden wir mit  Mülltrennung und Ökostromkonsum diese Welt retten.

Irlands Wildnis

Die Titelgeschichte im SPIEGEL ist im übrigens wenig lesenswert, da die Autoren offensichtlich doch Angst vor der Wahrheit haben, der Rettung durch Technik das Wort reden und ihre Klientel nicht allzu sehr mit der Wahrheit erschrecken wollen, dass der irre gewordene Kapitalismus, die destruktiv marodierende Wirtschaft, unser aller Konsum-Sucht, die weiterhin vorherrschende Ideologie des Neoliberalismus und unser pseudo-religiöser Gottes-Ersatz namens Wachstum die Ursachen für die fortgeschrittene Zerstörung des Planeten sind (Nebenbei: Wir tun immer so, als würde bald einmal etwas Schlimmes passieren, dabei geschieht die Katastrophe längst schleichend vor unser aller Augen: gigantische Umweltzerstörung, Ausrottung von Tieren und Pflanzen, Anstieg der Temperatur und der Meere).

Hungry Hill von Derryclancey

NKDer neue SPIEGEL ist dennoch lesenswert, denn es gab tatsächlich einen rein formalen Anlass für die Umwelt-Titelstory: Anfang März erscheint Naomi Kleins neues Buch in Deutsch: Die Entscheidung – Kapitalismus vs.Klima heißt es und rechnet mit der gescheiterten Klimaschutzpolitik der letzten Jahrzehnte ab. Im Interview wirbt die kanadische Globalisierungs-Kritikerin für eine Revolution von unten gegen den Kapitalismus und die zerstörerischen Kräfte des freien Marktes. Von der in Systemzwängen gefangenen Politik erwartet Klein gar nichts. Die besorgten Menschen müssen deshalb ihre Politiker zum Jagen tragen. Der Weg: Revolution durch eine Massenbewegung. Die Ziele: Beschränkung, Verzicht, Überwindung der Wachstums-Ideologie und  eine drastische Regulierung der Märkte.  Naomi Klein im Interview:

“Jahrzehntelang hat die grüne Bewegung die Menschen dazu erzogen, Komposthaufen anzulegen, Müll zu trennen, Fahrrad zu fahren. Sehen Sie sich an,was in diesen Jahrzehnten aus dem Klima geworden ist.

Weil die Strategie, sich auf sparsame Glühbirnen und Emissionshandel zu konzentrieren, trostlos gescheitert ist. Erstens, die Umweltbewegung war in den meisten Ländern zweieinhalb Jahrzehnte lang elitär, technokratisch und scheinbar politisch neutral. Wir sehen heute das Ergebnis: Die Richtung ist falsch, die Emissionen steigen, der Klimawandel ist da. Zweitens, in den USA waren alle großen juristischen und gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 150 Jahre die Folge sozialer Massenbewegungen, ob für Frauen, gegen die Sklaverei oder für die Bürgerrechte. Diese Kraft brauchen wir wieder, schnell, denn die Ursache des Klimawandels ist das politische und wirtschaftliche System selbst.

Wir brauchen eine ökonomische und politische Transformation, basierend auf stärkeren Gemeinden, nachhaltigen Arbeitsplätzen, einer gerechten Wirtschaft, mehr Regulierung, einem Abschied vom Wachstumswahn. Das ist die gute Nachricht: Wir haben die echte Chance, viele Probleme zugleich zu lösen.”

Irland Wildnis Winter 6Doch zurück zum Alltags-Wunder. Mit einem Kopf voller sorgenvoller Gedanken zur Rettung der Welt packe ich den Rucksack und mache mich mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter auf den Weg in die Berge vor unserer Haustür. Wir gehen bergauf. Ziel ist der Hungry Hill, auch Angry Hill, Ccoc Daod, Berg der zwei Götter,  im Zentrum der Beara Peninsula in Irlands Südwesten. Wir setzen Fuß vor Fuß. Schritt für Schritt lassen wir die Sorgen des Alltags hinter uns, bald bewegen wir uns oberhalb der Sorgengrenze — gehen gegen starken Wind, atmen die atlantische Luft, steigen über Felsplatten und versinken knöchteltief im Moor, erreichen schließlich die ersten Schneefelder unterhalb des Doppelgipfels dieses mächtigen Sandsteinfelsens. Der Körper arbeitet schwer, doch das Sein ist jetzt leicht. Wir sind Teil dieser Natur und ergeben uns, übergeben das Denken, das Sorgen, das Planen und Wollen einfach für ein paar Stunden dem Wind.

Im FelsMir wird beim Gehen vollends klar, warum wir Menschen die Natur unseres Planeten nicht für genügend schützenswert halten, um ganz entschieden für deren Gesundheit einzutreten. Wir haben ein kulturell verkorkstes Verhältnis zur Natur (“Machet Euch die Erde untertan”), schlimmer noch: Wir haben — viele von uns haben — gar kein Verhältnis zu dieser Natur mehr. Wir leben in den Kunstwelten der Zivilisation, unsere Gedanken und Gefühle vagabundieren in virtuellen Online-Welten. Wir kennen die Natur nicht mehr, wissen nicht viel über sie. Dabei ist sie die große transformative Kraft: Es sind nur ein paar Schritte, ein paar Stunden in Wind, Sonne, Regen, und sie verändert uns, lässt uns zu Ruhe und Klarheit kommen. Es ist ganz einfach, man/frau muss nur die ersten Schritte ins Alltagswunder wagen. Der Rest geht wie von selbst. Hier ein paar Fragen, die mir unterwegs ins Bewusstsein kommen:

Wann bist Du zum letzten Mal über einen Bach gehüpft?

Wann hast Du zum letzten Mal im Fluss gebadet?

Wann bist Du zum letzten Mal barfuß über eine Wiese gelaufen?

Irland Wildnis Winter_3

Wann hast Du zuletzt den warmen Regen auf Deiner Haut gespürt?

Wann bis Du zum letzten Mal auf einen Felsen gekraxelt?

Wann hast Du zuletzt dort oben auf dem Gipfel den Himmel geküsst?

Wann hast Du zuletzt Dein Herz geöffnet?

Heute ist der erste Tag vom Rest unseres Lebens. Vielleicht ein Tag, um etwas zu tun, was wir lange nicht getan haben: Die Natur* neu kennen und schätzen zu lernen.

Irland Wildnis_Im Fels_Ich beschäftige mich im Rahmen unserer Wildnis-Arbeit mit der existentiellen Frage, wie wir unser Verhältnis zur Natur besser verstehen und neu begründen können. Wir gehen mehrmals im Jahr mit einer kleinen Gruppe Menschen für eine Woche zum Wildnis-Wandern in die Abgeschiedenheit der irischen Berge, um gemeinsame Antworten zu erfahren. Wer Interesse hat: www.irland-wildnis.de

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* Und klar: Natur ist nicht nur, wenn die Sonne scheint und uns angenehm wärmt. Natur ist auch herausfordernd, angreifend, zerstörerisch und mahnt uns, uns gut zu schützen.

Alle Fotos stammen von unserer Wanderung am 21. Februar 2015 auf den Hungry Hill. Fotos: © 2015 Markus Bäuchle / Wanderlust

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