BleistifteÜber die Schrecklichkeit der Hinrichtungen von Paris ist alles gesagt worden. Wir haben zudem viele schnelle Antworten gehört und gelesen, obwohl die Motive für  dieses Blutbad bis jetzt überhaupt nicht geklärt sind; und natürlich: “Je suis Charlie”, wir alle sind jetzt Charlie, wir alle sind jetzt solidarisch mit den getöteten Kämpfern für die Meinungsfreiheit in der Redaktion von Charlie Hebdo. Das ist zunächst eine Bekundung und das, was Enzensberger einmal Gratismut nannte. Es kostet uns zunächst nichts, oder zumindest nicht viel. Dennoch ist das massenhafte Bekenntnis zu Freiheit und Meinungsfreiheit jetzt wichtig. Und noch wichtiger ist, dass wir daran festhalten, wenn es unbequem wird. Dass wir verteidigen, was uns ausmacht und was uns eint, wenn es in unserem eigenen Leben darauf ankommt. In der Straßenbahn, im Pub, bei der Arbeit . . .

 

Am Tag 3 nach dem Attentat von Paris sind es weniger die Antworten als die Fragen, die in mir arbeiten. Zuvorderst diese drei:

Ich bin Charlie:: Was nützt der ganze Sicherheits- und Überwachungswahn, dem wir seit Jahren nun schon ausgesetzt sind, wenn 88.000 französische Sicherheitskräfte tagelang nicht in der Lage sind, zwei lange observierte, mittlerweile identifizierte, aktuell maskierte und schwer bewaffnete Flüchtende festzunehmen?

:: Die Beschwörungen und Analysen über die gespaltene Gesellschaft, über die Radikalisierung der Ausgegrenzten und über die Verführbarkeit der Geängstigten, der Verunsicherten und der sozialen Absteiger, sie alle erinnern an sozialwissenschaftliche Seminare aus dem frühen Nachkriegs-Deutschland. Könnte es sein, dass wir längst ein Stück weiter sind, dass die Menschen in Europa in ihrer großen Mehrheit sehr gut verstehen, dass die alten Muster vermeidbar und überwindbar sind?

Vor allem aber:

Titelseiten / Presseschau / Charlie Hebdo:: Wenn es stimmen sollte, dass wir in einem Kampf der Kulturen verstrickt sind, dann lohnt es sich zuallererst, darüber nachzudenken, welche Kultur wir denn hier verteidigen? Was ist es dann, was uns anders macht und was wir auf keinen Fall preisgeben wollen und dürfen? Was macht dieses Abendland im Positiven aus? Oder müssen wir Michel Houellebecq zustimmen, der unsere westlichen Gesellschaften für unrettbar verkommen hält? Thomas Steinfeld hat eine Betrachtung über Houellebecqs neues Buch Unterwerfung in der Süddeutschen Zeitung mit diesen Sätzen eingeleitet:

“Wenn es ein Abendland gäbe, das gegen den Islam oder wen auch immer verteidigt werden müsste, worin bestünde es gegenwärtig? In einer Meinungsfreiheit, die ihren Gipfel darin erreicht, dass im Fernsehen in eigens dafür eingerichteten Gesprächsrunden arrangierte Kontroversen unter professionellen Meinungsbesitzern geführt werden? In einer Kultur des Wettbewerbs, die davon absieht, dass alle Konkurrenz weitaus mehr Verlierer als Gewinner hervorbringt? In einer Ideologie der Liebe, die glaubt, das höchste Glück auf Erden zu vertreten, aber vor allem Enttäuschung entstehen lässt, um von den vielen Gewalttaten zu schweigen, die aus dem Idealismus des Privaten hervorgehen? In der Verwahrlosung ganzer Völkerschaften, in Arbeitslosigkeit und Kriminalität, in kleinen Bürgerkriegen an den Rändern der europäischen Metropolen – und in einem erstaunlichen Frieden, in dem Menschen noch von ihrer Arbeit leben können, während um sie herum die halbe Welt auf Flucht und Wanderschaft ist?”

Die aktuelle Ausgabe von Charlie Hebdo

Die aktuelle Ausgabe von Charlie Hebdo

Welchen Stellenwert etwa hat die Freiheit, von der nun plötzlich wieder so viel die Rede ist, in unserem Leben? Ist es die Freiheit des Konsums und der Warenauswahl? Oder geht es am Ende doch um mehr? Wie steht es mit den alten ur-französischen Idealen, die zum Kern der einenden europäischen Werte gehören: Freiheit, Gleichheit ( = Chancengleichheit) und Brüderlichkeit (= Solidarität). Ich fürchte, wir haben unsere eigenen ur-europäischen Werte zu sehr aus den Augen verloren — eingelullt von einem in die Irre führenden Way of Life und gefesselt von einem finanz-kapitalistischen System-Monster, das mit gnadenloser Amoralität sämtliche Lebensbereiche wertevernichtend durchdringt. Und nun erschrecken wir angesichts der strengen Wertegebundenheit anderer Kulturen über uns selbst.

Möglicherweise ist es an der Zeit, im eigenen Haus aufzuräumen, endlich die Wertegemeinschaft anstelle des Finanzsystems Europa ernst zu nehmen und uns unserer selbst wieder sicher zu werden. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht.