Irland ZeitIn Irland gehen die Uhren anders. Sagt man, und es stimmt: Im westlich vom europäischen Kontinent gelegenen Irland ist es immer eine Stunde früher als inFrankreich oder Deutschland. “Zum Ausgleich” kommt man hier gerne eine viertel oder halbe Stunde später als vereinbart. Irland liegt in der Zeitzone der Western European Time (UTC + 0), wie Greenwich in England. Dass dies allerdings die Ursache für die sprichwörtliche Unpünktlichkeit der Iren ist, darf bezweifelt werden.

In Irland gehen die Uhren anders: Der Kurs begann am Samstag um 9:30 Uhr im St. Gobans College. Eigentlich. Wir sind fast pünktlich, 9:40 Uhr — und alleine. Im Foyer der verlassenen Schule kein Schild, kein Mensch, kein Hinweis. Wir arbeiten uns also durch die vielen Flure zu den vielen Zimmern. Nach zehn Minuten der Fahndungserfolg: Im einzigen beheizten Zimmer des Gebäudes sitzen vier Tee trinkende Menschen. Toll, der Ausbilder und drei Teilnehmer. Es ist 9:50 Uhr, und sie freuen sich erkennbar, dass noch jemand vorbeischaut. Wir sind jetzt zu fünft. Eigentlich sollen zehn Leute am Kurs teilnehmen.

Nach weiteren zehn gemütlichen Minuten räuspert sich Jerry, der Ausbilder. Eigentlich müssten noch fünf Teilnehmer kommen. “Die sind wahrscheinlich versehentlich ins Maritime Hotel gegangen”, mutmaßt er (warum auch immer) und ruft im Hotel an. Wir plaudern gemütlich weiter. Draußen ein frostiger Morgen, wir sitzen — umringt von Radiatoren und Heizlüftern — behaglich im einzigen beheizten Zimmer in der alten Schule. Kurz nach 10 Uhr steckt eine Frau ihren Kopf durch den Türspalt. Sie ist richtig— und ihrer Ansicht nach überpünktlich: ” Man hat mir gesagt, wir fangen um 10 Uhr an”. “You are fine, Michelle, have a seat”. Jerry freut sich, dass die Teilnehmerzahl gerade auf sechs gestiegen ist.

Wir plaudern weiter. Um 10:15 Uhr macht Jerry erste Versuche, eine Brücke zum Stoff zu bauen und mit dem Kurs zu beginnen. Er streut ein paar Stichworte. Man weiß nicht so recht, ob er wirklich schon begonnen hat, es ist ein Warming up der irischen Art. Um 10:25 Uhr dann zwei weitere Ankünfte. Die beiden setzen sich selbstbewusst, als würde der Kurs um 10:30 Uhr beginnen, freuen sich, dass sie das Zimmer im Irrgarten der Schule aus eigener Kraft gefunden haben. Jerry freut sich auch, über acht Teilnehmer, und legt los. Vielleicht nicht pünktlich, aber durchaus rechtzeitig. Es ist 10:30 Uhr, es ist nun eine Stunde später, ein gehaltvoller, ausgezeichnet vorbereiteter und gut strukturierter Kurs mit 1000 Anekdoten und einem unterhaltsamen und kompetetenten Ausbilder beginnt. Well done, Jerry.

Wie schützt man sich als deutscher Pünktlichkeits-Fanatiker vor der irischen Zeitfalle? Man ergibt sich. Man desertiert von der eigenen Erziehung. Man kommt irgendwann einfach selber zu spät, nie mehr pünktlich und doch immer rechtzeitig. In Irland gehen die Uhren anders.   

PS: Alle Menschen, die in irgendwelchen Call Centern und Büros für Apple, Vodafone oder einen großen Versicherungskonzern minutengenaue Schicht schieben, mögen nachsichtig sein. Natürlich, es gibt auch das andere, das pünktliche, das zeit-fanatische Irland — nach dem wir uns allerdings nicht sehnen.