Irland, Sonntag, 10 Uhr. Ein paar hundert tropfnasse Schaulustige versuchen dem Start zur dritten Etappe der “Tour of Ireland” einen würdigen Rahmen zu geben. Sie verharren trotz strömenden Regens auf dem Square in Bantry, um den Start der Rad-Profis um 10:25 Uhr zu beklatschen. Eine Menschentraube hängt um den Reisebus des Astana-Teams. Wo ist Lance? Epo hin, Doping her – Lance Armstrong wollen alle sehen. Er ist der Star der dreitägigen Irlandrundfahrt. Und da kommt er, der siebenmalige Tour-Gewinner aus Texas, der Rückkehrer ins Rad-Business. Zwei Minuten vor dem Start rollt er lässig an die Startlinie – ganz in schwarz gedressed, Leute greifen nach ihm, wollen ihn, den Star, einmal im Leben berühren, ein wenig von der Sonne abbekommen, in der Armstrong trotz des Dauerregens steht.
Da ist Lance – da war Lance, schon rollt das Peloton an, heraus aus der Stadt, in Richtung Cork, dem 180 Kilometer entfernten Ziel entgegen. Armstrong gibt später auf. Zu viel Regen, zu starke Schmerzen. Ein Brite gewinnt die Tour. Doch wo sind nun die Fotos von Lance?
Warum nur dürre Worte, wo doch ein Foto von Lance in Bantry, Lance in Bantry !!! so viel mehr ausdrücken könnte? Der Wanderer hatte – was alle paar Jahre einmal vorkommt – keine Batterie in der Kamera stecken. Wir nehmen heute allzu leicht an, dass nur stattgefunden hat, was wir auch fotografiert haben, dass nur wahr ist, was Foto geworden ist. In Abwesenheit einer Kamera offenbarte sich dem Wanderer jedenfalls der journalistische Berufs-Defekt, die Wirklichkeit vornehmlich als Feld der Möglichkeiten für gute Motive zu begreifen.
Die Abwesenheit der Kamera erinnerte ihn an die amerikanische Essayistin Susan Sonntag (1933 – 2004, ab 1988 Lebenspartnerin der gerade vor einem finanziellen Abgrund stehenden US-Fotografin Annie Leibovitz). Sontag hatte 1977 mit “Über Fotografie” ein brillantes und scharfsinniges Buch über das Medium Fotografie geschrieben, das bis heute – da kein Mensch mehr ohne Digitalkamera oder Handy-Cam auskommt – absolut lesenswert geblieben ist. Hier einige Zitate:
“Wie Fotografien dem Menschen den imaginären Besitz einer Vergangenheit vermitteln, die unwirklich ist, so helfen sie ihm auch, Besitz von einer Umwelt zu ergreifen, in der er sich unsicher fühlt. So entwickelt sich Fotografie zum Zwillingsbruder der kennzeichnendsten aller modernen Aktivitäten: des Tourismus…

Es scheint … unnatürlich, zum Vergnügen zu reisen, ohne eine Kamera mitzunehmen. Fotos sollen den unwiederleglichen Beweis liefern, dass man eine Reise unternommen, das Programm durchgestanden und dabei seinen Spaß gehabt hat. Fotografien dokumentieren Konsumakte, die außerhab der Reichweite der Familie, der Freunde und der Nachbarn vollzogen werden.”

“Die Abhängigkeit von der Kamera als jener Erfindung, die das, was einer erlebt hat, erst zur Wirklichkeit macht, schwindet nicht, wenn die Menschen öfters verreisen.”

“In jüngster Zeit (1977!!!) ist das Fotografieren ein ebenso weitverbreiteter Zeitvertreib geworden wie Sex oder Tanzen – was bedeutet dass die Fotografie, wie jede Form der Massenkunst, von den meisten Leuten nicht als Kunst betrieben wird. Sie ist vornehmlich ein gesellschaftlicher Ritus, ein Abwehrmittel gegen Ängste und ein Instrument der Macht.”

Wer Susan Sontag im Original lesen will, erhält das Buch hier: Über Fotografie
Der 23. August wird dem Wanderer jedenfalls als der Tag in Erinnerung bleiben, als Lance in Bantry war, obwohl die Kamera nicht funktionierte. Er wird sich erinnern, dass Lance wirklich da war, dass er schwarz gekleidet war und dass er 40 Kilometer vor dem Ziel in Cork aufgegeben hat. Darauf wird ihn auch der kleine Kater immer wieder hinweisen, der seit dem 23. August zum Haushalt gehört, der das Fell in der Haarfarbe von Jan Ullrich trägt, und der nun ertragen muss, dass er Lance heißt.
PS: Um wirklich ganz sicher zu gehen, zum Nachschauen: Der Foto-Beweis (Lance Armstrong in Bantry, im Hintergrund zwei ambitionierte deutsche, in der Bantry Bay wohnende Freizeitradler, Wolfgang und Peter). Zu sehen im britischen Telegraph.
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The Wanderer travelled to Bantry yesterday to attend the start of the Tour of Ireland´s final stage. Unfortunately he left the camera´s battery pack at home. So there are no photos of the Cycling race – and some reasoning instead, if Lance Armstrong had really been to Bantry, although no photos had been taken. The absence of the camera reminded The Wanderer of a brilliant book of Susan Sontag, “On Photography”, published first in 1977 and still a good read after all these years. Sontag analysed photography as a modern medium sharply, deeply and with great insight.