»Jedes Mal, wenn die glücklich verheiratete Frau wegfuhr, fragte sie sich, wie es wohl wäre, mit einem anderen Mann zu schlafen. An diesem Wochenende war sie entschlossen, es herauszufinden. Es war Dezember; auch über dieses Jahr würde sich bald der Vorhang senken. Sie wollte es tun, bevor sie zu alt wurde. Sie war überzeugt, dass sie enttäuscht sein würde.« (Antarktis, S. 5)

 

Eine Künstlerin der Kurzform

 

Claire Keegan – Liebe im hohen Gras
übersetzt von Hans-Christian Oeser und Inge Leipold.

Eine Rezension von Ellen Dunne

Ich liebe es, wenn ein Text auf den Punkt kommt. Wenn er mir mit wenigen Worten neue Welten eröffnet, Spannung, Nähe und Anteilnahme erzeugt oder mit ein paar Sätzen eine menschliche Tragödie erzählt. Entsprechend bewundere ich Autorinnen, die sich kurzfassen können, ohne an Tiefe zu verlieren. Claire Keegan ist so eine Künstlerin.

Liebe im hohen Gras vereint 23 ihrer Erzählungen aus früheren Jahren in einer Sammlung, deren Schlagzahl an zitierwürdigen Sätzen und vor allem an plastischen Charakterisierungen äußerst hoch ist. All das serviert in einer sehr zugänglichen, aber originellen Sprache, die uns mitten hinein führt ins Leben ihrer Figuren. Und die haben selten was zu lachen. Zum Beispiel die beiden jungen Schwestern, die sich aus nicht näher erläuterten Gründen alleine durchbringen müssen und deren Alltag ein Spießrutenlauf gegen Menschen ist, die ihre Notsituation auszunutzen versuchen.

»Smethers, dieser schleimige Sack mit seinen braunen Umschlägen. Da kommt er schon, in seiner prächtigen blauen Uniform. Wieder ein Tag, wieder ein dichter, heller Raum, den er verdüstern kann. Er stolziert die Straße zu unserer Veranda herauf, schiebt sich die Haare unter die Mütze und ruft durch den Briefkastenschlitz: „Morgen, Mädels!“« (Die singende Kassiererin, S. 81)

Ellen Dunne, Foto ©Orla Connolly

Die Vorkosterin: Ellen Dunne stellt auf Irlandnews lesenswerte Bücher aus und über Irland vor. Im Salzburger Land geboren und aufgewachsen, weckten zunächst die Berichte über den Nordirland-Konflikt in den 90ern ihr Interesse an der Insel. Seit 2004 lebt sie in und um Dublin, wo sie zunächst mehrere Jahre im Google Europa-Hauptquartier arbeitete. Inzwischen ist sie freie Texterin und Autorin. Ihre bisherigen Romane und Kurzgeschichten werden bei Haymon, Suhrkamp/Insel und Eire verlegt, 2023 erhielt sie den Friedrich Glauser Preis für den besten Kriminalroman. Auf IrlandNews schreibt sie über Literatur aus und über Irland. Mehr über Ellen gibt es unter www.ellen-dunne.com Foto: ©Orla Connolly

Die großen Dramen alltäglicher Menschen

Claire Keegan ist spätestens seit der vielbeachteten Verfilmung ihrer Erzählung „Das dritte Licht“ eine fixe Größe nicht nur der irischen Literaturwelt. „Kleine Dinge wie diese“ wurde 2022 für den Booker Preis nominiert und wird nun mit Cillian Murphy und Emily Watson verfilmt. Aufgewachsen im ländlichen Wicklow als Tochter einer Farmerfamilie, verbrachte Claire Keegan auch einige Zeit in den USA, studierte Englisch in New Orleans. Immer wieder sind ihre Erzählungen in den USA angesiedelt. So wie „Passbildersuppe“, in dem die Tragödie eines vermissten Kindes die Ehe der Eltern so lange zersetzt, bis die Spirale aus Schmerz, Wut und Vorwürfen in einer Szene eskaliert, die gerade weil sie so zurückgenommen ist, betroffen macht. Die langsam stärker werdende Beklemmung und Resignation davor macht Keegan vom ersten Satz an spürbar.

»Frank Corso ist so weit, dass er nichts mehr erwartet. Er kommt erst spät nach Hause – in ein leeres Haus, in dem kein Feuer brennt. Heute Abend sammelt er Spanholz, zündet im Ofen ein Feuer an und wärmt sich die Hände. Zum Abendessen brät er Speck und grüne Tomaten und deckt für eine Person. Seine Frau ist kaum je zu Hause. Und wenn sie da ist, sitzt sie auf der Veranda, starrt erwartungsvoll auf die Straße, wartet, dass das Telefon klingelt. Heute Abend ist es wie meist. Ihr Kombi steht nicht auf dem Einstellplatz. Wahrscheinlich fährt sie den Highway entlang und sucht.« (Passbildersuppe, S. 145)

Die besten Geschichten schreibt das irische Landleben

Gerade die in den USA angesiedelten Stories beschäftigen sich häufig mit ziemlich dramatischen Ereignissen und ihren Auswirkungen auf die Charaktere – vom verschwundenen Kind („Passbildersuppe“), über rassistische Rache („Der Geruch von Winter“) bis hin zu einem Seitensprung mit einer verstörenden Wendung („Antarktis“). Auch Homophobie wird mit viel Empathie thematisiert (“Am Rande des Meeres”).

Zur Hochform läuft Claire Keegan jedoch auf, wenn sie ihren unerbittlich klaren Blick auf jene Welt richtet, in der sie aufgewachsen ist – das Leben der oft bäuerlich geprägten Familie auf dem irischen Land. Da geht es um Auswanderinnen mit einer traumatischen Kindheit und gescheiterte Rückkehrerinnen mit unklarer Zukunft (“Komischer Name für einen Jungen”); es geht um lieblose Ehen, ungeplante Schwangerschaften, Missbrauch und die zerstörerische Kraft von Affären. All das legt die Autorin Schicht für Schicht frei, Satz für Satz, mit keinem Wort zu viel. In jedem eine Überraschung, eine neue Wendung, ein neuer Aspekt:

»Deegan, der Förster, ist nicht der Typ Mann, der an den Geburtstag seiner Kinder denkt, am wenigsten an den seiner Jüngsten, die eine starke, hexenhafte Ähnlichkeit mit ihrer Mutter aufweist. Wenn sich auch bisweilen Zweifel an seiner Tochter in ihm regen, so hält er sich doch nicht lange damit auf, denn gerechterweise muss man sagen, dass Deegan wenig Zeit hat, sich mit irgendetwas aufzuhalten. In Aghowle gibt es drei Teenager, die Milchkühe und die Hypothek.« (Die Tochter des Försters, S. 235)

So entsteht von Beginn an eine Spannung im Text, die mich beim Lesen in Atem hält, mich das Schlimmste befürchten und doch bis zum Ende das Beste hoffen lässt. Enden, die Claire Keegan lebensnah offen gestaltet, und nach dem Lesen trotzdem das Gefühl hinterlassen:
Es ist alles gesagt.

 

Meine Meinung

Wer Short Stories und Erzählungen liebt, noch dazu die der irischen Sorte, kommt an Claire Keegan nicht vorbei. Nicht alle Werke in dieser Sammlung erreichen die zwingende Qualität von „Das dritte Licht“ und „Kleine Dinge wie diese“. Aber jede der 23 Erzählungen schafft es, das Leben und zentrale Leiden der Charaktere ganz rasch ganz nahe zu bringen. In einer Sprache, die mit wenigen Worten großartige Bilder, aber auch viel Spannung und nicht selten eine körperlich spürbare Beklemmung erzeugt.

 

Liebe im hohen Gras

Claire Keegan, übersetzt von Hans-Christian Oeser und Inge Leipold
Erschienen im Steidl Verlag, 343 Seiten

Erhältlich im lokalen Buchhandel oder beim fairen
Online-Buchhändler Buch7  für 24 €

 


Irlandnews-Buchtipps: Alle Buch-Rezensionen von Ellen Dunne gibt es hier.


Fotos:  Titelfoto & Beitragsfotos © Ellen Dunne, Foto Claire Keegan, Ian Oliver (Wikimedia Commons); Foto Ellen Dunne (© Orla Connolly)