Eine menschenleere Kreuzung im ländlichen Irgendwo West Corks zwischen Skibbereen und Castletownshend. Das Dickicht aus Brombeer- und Ginstergestrüpp direkt an der Abfahrt zur Sandycove. Das war der Ort, den ich suchte. Am 19. Juli 1997 erzählte ein wortgewaltiger Österreicher einem Publikum in Salzburg die Geschichte von jenem Ort. Der Schriftsteller Christoph Ransmayr, der einige Jahre an der Südküste Irlands gelebt hatte, sprach auf der Bühne der Salzburger Festspiele über eine Bühne am irischen Meer:
„Die Bühne, von der ich hier berichte, liegt hoch über den Klippen der südirischen Atlantikküste, an einer der unzähligen, von Feldsteinmauern, Stechginster und Fuchsienhecken gesäumten Straßen, die sich zwischen den Leuchttürmen von Galley Head und Irlands südwestlichstem Kap, dem Mizen Head, in tief eingeschnittenen Buchten und felsigen Hügelketten verlieren. Eine Bühne so nahe der Brandung, daß die Schauspieler, Sänger oder Dichter, die sie jemals betraten, die Stimme manchmal erheben mußten, um das Meer zu übersingen oder einfach zu überschreien. Mein Freund Eamon aus Skibbereen, der mir auch gezeigt hat, wie man ein Boot sicher zwischen Klippen verankert, wie man Hummerkörbe auslegt und bissige Katzenhaie, die in diese Körbe geraten, daraus wieder befreit, ohne sich zu verletzen, mein Freund Eamon hat mich an einem stürmischen Februartag zu dieser meilenweit von jeder Siedlung entfernten Bühne geführt. Die Wegkreuzung, an der sie liegt, heißt im südirischen Gälisch Glaisín Álainn. Das bedeutet Schöne Weide.
Glaisín Álainn war bis in die jüngste Vergangenheit und an sechs Tagen der Woche tatsächlich nur eine Viehweide mit großem Blick aufs Meer, eine gegen die Felsenküste sanft abfallende Wiese, auf der das einsame, nun verfallende Steinhaus eines Mannes namens Liam O’Shea stand. O’Shea lebte bis zum Jahr seiner Auswanderung nach Westaustralien mit zwei Kühen, vier Hirtenhunden, einem Maultier und einer wechselnden Anzahl von Schafen auf Glaisin Álainn, brannte in einem Schacht der aufgegebenen Kupferminen an der Roaringwater Bay heimlich Poteen, Kartoffelschnaps, fuhr nach solchen Brandnächten auf seinem Maultierkarren oft schlafend über die Dörfer und konnte zur Begleitung einer Knopfharmonika in einer fast endlosen Ballade alle Namen, Jahres- und Opferzahlen von mehr als einhundert Schiffsuntergängen an der irischen Westküste singen. Mit seinen über die Woche gestreuten Besorgungsfahrten, auf denen er das Neueste aus den Dörfern und von den nahen Inseln erfuhr und weitererzählte und nebenbei Bier in Flaschen, Tabak, Karamel und andere weiterverkäufliche Genüsse nach Glaisin Álainn schaffte, schien er sich aber stets nur auf jenen einen Abend vorzubereiten, an dem sein Haus zum Schauplatz wurde, zum Theater, seine Viehweide zu einem festlichen Ort.
Denn an Sonntagabenden versammelten sich auf Glaisín Álainn Bauern, Fischer, Strandgutsammler, Torfstecher, Handwerker und das irische Personal englischer Herrenhäuser – versammelte sich ein Publikum, das zu Fuß oder bestenfalls mit dem Fahrrad auch aus stundenweit entfernten Gehöften und Weilern West Corks kam, um hier an etwas teilzunehmen, was unter weniger bescheidenen Verhältnissen und an windstilleren Orten Darstellende Kunst heißt: Getanzt wurde bei Liam O’Shea! Getanzt, gesungen, Geschichten und Balladen zur Knopfharmonika oder zur tin whistle, einer dünnen Blechflöte, vorgetragen – das alles auf einer Bühne unter freiem Himmel, die Liam O’Shea inmitten seiner Weide aus Meersand und von den Gezeitenströmungen glatt geschliffenen Steinen gemauert hatte und zu der sein Publikum einfach the platform sagte.
Auf Liam O’Sheas Plattform konnte sich an einem Sonntagabend jeder aus dem Publikum vom Zuschauer in einen umjubelten Darsteller verwandeln, konnte einer, der eben noch gerührt oder lachend bloß zugehört hatte, sich nun selber erheben, zur Harmonika oder zur Blechflöte greifen und dann unter dem Applaus verstummter Sänger und Musiker zu spielen, zu singen beginnen.„ (Auszug aus C. Ransmayrs lesenswertem Text)
Kunstvoll verwob Christoph Ransmayr Geschichten, Wahrnehmungen, lokale Legenden und Mythen zu einer die Phantasie beflügelnden Rede. Sie erschien später im Jahr 1997 mit dem Titel Die dritte Luft als Büchlein. Ich las und machte mich auf die Suche. Ich fand: Eine menschenleere Kreuzung. Ein Dickicht aus Brombeer- und Ginstergestrüpp. Von Liam O’Sheas Bühne keine Spur. Die Zeit war über sie hinweg gegangen, die Natur hatte sich den Ort wieder einverleibt, der einst an Sonntagabenden das kulturelle Zentrum dieses Irgendwos gewesen war.
Der alte Mann, der 1962 aus Kilbrittain nach Glaisín Álainn zog, erinnert sich gut: Ja, das war der Ort des Tanzbodens. Dort hat er als junger Mann selber getanzt. Die Plattform wurde eines Tages zugeschüttet, ein Zaun an den Straßenrand gesetzt. That´s the story told. Der alte Mann bedeutet seinem Hund mit dem Stock, weiter zu gehen. Vorbei das Dancing at the Crossroads. Die Instrumente sind lange verstummt.
Mrs. Sheehan lebt ein paar Häuser die Straße runter. Ihre Augen glänzen, als sie von alten Tagen und den Tanzabenden an den Crossroads schwärmt. Sie war eine gute und eine eifrige Tänzerin. Sie tanzte dort jeden Sonntag. Die Plattform wurde bis in die 80-er Jahre benutzt. Haus und Land gehörten damals Jim Barry, die Kreuzung ist heute noch als Jim Barry’s Cross bekannt. Irgendwann gab es Streit, die Leute wurden empfindlich. Nachbarn beschwerten sich über den Lärm auf der Bühne. Jemand band dem Pferd von Jim Barry einen Blecheimer an den Schwanz. Die Tänzer und Musiker kamen eine Zeitlang mit Beilen bewaffnet zum Sonntagsvergnügen. Dann war es vorbei.
Das Haus an der Kreuzung mit dem Tanzboden gehört mittlerweile Christoph Ransmayrs Freund Eamon. Er hatte es noch im Jahr 1997 gekauft. Eamon lebt in der nächsten Stadt, im Haus im Irgendwo wohnte lange sein Sohn Eddie. Ich besuchte Eddie vor einigen Jahren. Vater und Sohn planten, den Ginster und die Brombeeren zu schneiden und die Plattform an der Kreuzung wieder aufzubauen. Man würde Christoph Ransmayr einladen, die Leute von Glaisín Álainn, aus der Umgebung, auch mich. Man würde ein großes Fest feiern, so wie damals. Die Plattform kam nicht zurück. Stattdessen kam Corona.
Manchmal geschehen am Atlantik in Irland Wunder. Strände, die Jahrzehnte lang verschwunden waren, kehren über Nacht zurück. Heute fahre ich nach Glaisín Álainn.
Fotos: Markus Bäuchle
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Lieber Markus,
hierzu fällt mir der Film JIMMY´S HALL von Ken Loach ein. Wunderbarer Film über einen Ort, an dem man sich treffen, tanzen und feiern konnte, den es heute auch nicht mehr gibt.
Patrick
Ja, lieber Patrick, ein klasse Film. Ken Loach vom Besten!
Was für eine schöne Geschichte, und von euch beiden so eindrücklich erzählt. Ich wähnte mich dort, damals und heute….
Lieber Markus, eine schöne Geschichte über das Fließen des Lebens und damit die Vergänglichkeit dessen was unser menschliches Leben eben auch ausmacht…
Orte haben ihren eigenen Geist und werden für uns zudem geprägt von Menschen und ihrem Tun. Manches ist nur da, weil es ein oder zwei Menschen gibt, die einen Ort dafür zurechtmachen, es veranstalten, gestalten und immer aufs Neue zum Leben erwecken… wie eben dieses Tanzfest… manchmal findet sich noch jemand der diesen Traum weiterspinnt aber irgendwann ist es aus vielerlei neuen Gründen einfach vorüber…
Die Erinnerungen daran werden in jenen so lange leuchten wie sie am Leben sind, dann erlischt auch dieser Traum, nur die Erde der schönen Weide, die Brombeeren und alle anderen Pflanzen, die die Natur dort aufwachsen lässt und der Wind werden weiter denen davon erzählen die ihre Augen in die Welt der Träume tauchen…
Die Elfen des Ortes aber tanzen noch immer und draussen dort in der freien Luft über dem Land kann man die Musik noch hören, vielleicht auch im Glaisín Álainn Cottage nebenan, je nachdem wer dort gerade nächtigen mag …