Das alte Irland

Dursey Island, Natur-Juwel im Südwesten Irlands

 

Dursey Island ist eine der letzten Bastionen des alten Irland, wo die Zeit stehen geblieben scheint. Die Insel am Ende der Beara Pensinsula in West Cork hat sich bis heute erfolgreich mit der einzigen Seilbahn Irlands vor der Vereinnahmung geschützt. Der primitive Cable Car, eine am Drahtseil hängende unansehnliche Holzkiste, schafft gerade mal 18 Menschen pro Stunde über den gefährlichen Sund auf die Insel. Das soll sich nun ändern: Dursey soll die neue große Tourismus-Attraktion im irischen Südwesten werden. Die regionale Geschäftswelt schreit Hurra. Kritiker sprechen vom schlimmsten geplanten Sündenfall seit dem Versuch, im Burren um die Jahrtausendwende ein monströses Touristen-Zentrum zu bauen.

 

Reise-Reporterin Nicole Quint berichtet aktuell über Dursey Island, diesen kostbaren Flecken Erde am Scheideweg.
Ihr Beitrag erschien am Wochenende bereits in der Zeitung Die Welt.

 

Ein ehrgeiziges Tourismusprojekt soll die irische Insel Dursey massenkompatibel machen. So wird aus einem der letzten Weltstillstands-Orte des Landes ein ganz gewöhnlicher Kassenschlager. Über die Ökonomisierung von Wasser und Fels.

 

Nicole Quint

Die Autorin: Nicole Quint im Dursey Cable Car

Diese Frage ist eine Gefahr für die Gesundheit: Wie viel Fremdenverkehr darf man sich bieten lassen? Dem einen jagt sie vor lauter Ärger den Puls in die Höhe, dem anderen flößt sie ein schlechtes Gewissen ein, und einen Dritten versetzt der Gedanke an die möglichen Gewinne in gierige Erregung. All diese Reaktionen dürften die ehrgeizigen Pläne auslösen, die das Cork County Council und das Tourismusamt Fáilte Ireland für das neue Dursey-Seilbahn-Projekt bekannt gegeben haben.

Bislang beförderte Irlands einzige Seilbahn üblicherweise etwa 18 Passagiere in der Stunde von der Spitze der Beara-Halbinsel hinüber nach Dursey. Mit dem für 2023 geplanten Einsatz von zwei neuen Kabinen könnten es bis zu 300 Touristen sein, die pro Stunde auf die Insel gelangen. Im Jahr wären das dann rund 80.000 Besucher. Damit der Kunde auch wirklich zum König der Klippen wird, sieht das neue Konzept zudem ein Besucherzentrum vor samt Café mit Außenterrasse, Souvenirshops und vielen Parkplätzen. Aussichten, die jeden, der schon mal auf Dursey war, nachdenklich machen.

Wer noch mit der alten Seilbahn über die brüllende Gischt des Sunds zu den ginstergelb leuchtenden Felsen von Dursey hinübergeschwebt ist, durfte sich ein bisschen heldenhaft fühlen, wenn der Wind kräftig an der eckigen, blau-weißen Büchse rüttelte. Im Notfall war Seilbahnführer Paddy über eine veraltete Gegensprechanlage zu erreichen. Um deren Funktionstüchtigkeit gar nicht erst testen zu müssen, klebte gleich darunter eine Anleitung zur Notfallverhütung – ein Zettel mit dem Psalm 91 und die fürsorgliche Aufforderung, diesen zum Schutz täglich zu lesen: „Fallen auch tausend zu deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es doch dich nicht treffen. Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen.“

Die hochmodernen, neuen Seilbahnen werden die Nerven kaum noch kitzeln, und Dursey selbst ist nach den hohen Maßstäben „Lonely Planet“-geschulter Globetrotter etwa so aufregend wie Exerzitien im Kloster. Die einzige Straße der Insel, eine grasbewachsene Schotterpiste, führt durch drei Dörfer, Geisterdörfer, alle schon vor langer Zeit verlassen und dem Verfall preisgegeben.

 

Dursey Island

An den Klippen von Dursey

 

Auf ganz Dursey gibt es weder Pubs noch Shops oder Restaurants. Auf der offiziellen Insel- Website findet sich daher die Empfehlung, sich vor der Anreise mit Verpflegung einzudecken. Die nächsten Einkaufs- und Vergnügungsstätten liegen im 24 Kilometer entfernten Castletownbere auf der irischen Hauptinsel. Die Chance, auf Blauschwanz, Eissturmvögel und Austernfischer zu treffen, ist um ein Vielfaches größer, als menschlichen Gesprächspartnern zu begegnen. Nur noch zwei Iren leben ständig auf Dursey, ein Dutzend weitere nutzen ihre Häuser bloß in den Ferien, und ein paar Bauern vom Festland besitzen Weideflächen auf der Insel. Mal kommt ein Schaf um die Ecke, mal ein dreibeiniger Border Collie – meist aber niemand.

Was sollen 80.000 Besucher auf einer Insel, die nur Menschen beglückt, die zur Stille begabt sind? Menschen, denen Landschaft und Wetter genügen, Eintags-Deserteure, die Fahnenflucht aus der Welt begehen wollen und wissen, dass sich der gefühlte Abstand zum Alltag auf Dursey in Lichtjahren messen lässt. Melancholie und Besinnlichkeit dieser geisterhaft leeren Insel sind nichts für Touristen, die abhängig von Erlebnis- und Einkaufskultur sind und bereits durch das Nichtfunktionieren ihrer Smartphones gestresst werden. Für solche Reisende ist nicht Dursey die Attraktion, sondern die Seilbahn, und mit der lassen sie sich locken wie Kinder mit dem Rascheln der Bonbontüte. Immer dem schnellen Reiz hinterher.

Was profitabel ist, wissen Menschen meist sehr genau, was gut für sie und ihre Umwelt ist, leider nicht immer. Studien zur Folgenabschätzung des neuen Seilbahn-Projekts gehen davon aus, dass mit dem Verlust von Habitaten seltener Pflanzen sowie mit dem Verschwinden von Brut- und Schlafstätten einiger Vogelarten zu rechnen ist. Der Bestand der Alpenkrähen ist nach Angaben von Birdwatch Ireland seit 2003 schon um 30 Prozent gesunken, und das bei vergleichsweise geringem Touristenaufkommen. Paradox, dass das neue Besucherzentrum jetzt genau jene biologische Vielfalt der Insel erklären soll, die durch das Projekt selbst weiter in Gefahr gebracht wird. Zur Begrenzung der schädlichen Effekte werden die Einrichtung markierter Wanderwege und die Festlegung auf maximal 12.835 Touristen im Monat vorgeschlagen. Vor fünf Jahren lag die Zahl der Besucher noch bei 12.000 – und zwar für das gesamte Jahr.

 

Dursey Island

Ein Bild aus vergangenen Tagen: Der Seilbahnwärter hieß noch Paddy, die Rinder hatten Beförderungs-Priorität und John Eagle fotografierte

 

Von einigen Umwelt- und Naturschutzverbänden abgesehen, die Durseys besondere Schutzwürdigkeit anmahnen, wagt sich leider kaum ein Kritiker auf das kommunikative Minenfeld. Mit der Bitte, auf eine Namensnennung zu verzichten, erzählen einige Einwohner der Gegend zwar von ihrer Angst, dass die Insel auf das Fließband der touristischen Produktion gesetzt und zur reinen Kulisse für Selfie-Enthusiasten wird, aber natürlich will niemand ein Spaßverderber sein oder dem Nachbarn das gute Geschäft verderben. Einer, der Angst vor den drohenden Neuerungen hat, sagt: „Ich hoffe, dass Dursey nicht durch die Verjüngung sterben wird.“

Befürworter argumentieren hauptsächlich mit der Schaffung von Arbeitsplätzen. So lasse sich der Landflucht entgegenwirken, die für viele Ecken West-Corks wieder vermehrt zum Problem wird, nachdem die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 viele Betriebe in der Landwirtschaft, Fischerei und im Baugewerbe besonders hart getroffen hat. In den Jahren danach entstanden vornehmlich Unternehmen im Bereich der Gastronomie, des Tourismus und der handwerklichen Lebensmittelproduktion. Für sie könnte ein groß dimensioniertes Seilbahnprojekt ein Katalysator sein und für Stabilität sorgen.

Grundsätzlich, so die Argumentation der Projektplaner, biete Dursey zurzeit auch nur ein „suboptimales Besuchserlebnis“, da die Wartezeiten an den Gondeln in der Hochsaison bis zu zwei Stunden betragen könnten und die Fahrgäste mitunter in langen Schlangen stehen müssten. Künftig kämen mehr Personen schneller auf die Insel und könnten die Zeit vor der Fahrt im komfortablen Besucherzentrum verbringen. Über das destruktive Potenzial des Projekts möchten die Seilbahn-Fans nicht reden. „Klau der Gans das goldene Ei, ohne sie zu töten“, lautet ihr einfaches Motto. Während sich also andere Urlaubsorte inzwischen vehement gegen Overtourism wehren, blickt Irland erstaunlich gelassen auf die künftige Überfüllung einer abgelegenen Insel.

 

Dursey Island

Dursey ist wie ein Freilichtmuseum. In den drei alten Dörfern leben nur noch eine Handvoll Menschen das ganze Jahr über.

 

Der Massentourismus droht die Insel ihrer Besonderheit zu berauben und sie zu einer Allerweltsattraktion zu machen. Werden Touristen in einigen Jahren noch so tief beeindruckt sein können wie die Reisenden vor ihnen, die Dursey noch fast ganz für sich allein hatten? Auf ihren Wanderungen nur begleitet von dem Raunen des Atlantiks und dem Summen des allgegenwärtigen Windes. Geräusche, die einen in die Zeit vor allen Zivilisationen horchen ließen. Das größte Ereignis aber war nicht die Ereignislosigkeit, sondern die Erfahrung, dass es einem an nichts gefehlt hat auf dieser Weltstillstands-Insel. Das Leben ergab hier Sinn – auch ohne laktosefreien Coffee to go, ohne Smartphones und Fitnessstudios.

Noch haben die Erfolgsversprecher nicht endgültig gesiegt. Gegen die Baupläne wurden Einsprüche erhoben. An Bord Pleanála, eine gerichtsähnliche Institution in Irland, hat den endgültigen Schiedsspruch erst kürzlich auf den Herbst 2020 verschoben. Weitere Unterlagen wurden angefordert, eine Genehmigung des Seilbahnprojekts ist an Änderungen geknüpft. Darf man also hoffen, dass die hohen Besucherzahlen gestutzt und Durseys Vögel wirksam geschützt werden? Oder müssen sich demnächst Tausende Touristen in der Hochsaison an den Seilbahn-Terminals aneinander reiben wie Pendler im morgendlichen S-Bahn-Verkehr? Darf Dursey ein zivilisationsferner Ort, der auch Besuchern zugänglich ist, bleiben? Oder muss die Insel zum Touristenort mutieren, der anstrengungslos zu erreichen und leicht konsumierbar sein wird?

Abhängig davon, wie die Entscheidung ausfällt, werden Irlandreisende künftig vor der Frage stehen, ob die Reise an einen so schönen, aber störanfälligen Ort wie Dursey überhaupt noch erstrebenswert ist.

 

 

Die Autorin: Nicole Quint. Die Reise-Reporterin aus Berlin hat viele Länder bereist. Am liebsten lebt sie in Irland. Sie kennt das Land und die Leute von vielen Aufenthalten. Nicole Quint schreibt über sich: “Ich lebe meist auf Reisen, manchmal in Berlin und am liebsten in Irland. Alles Unterwegssein ist deshalb auch immer ein Stück Heimatsuche für mich. In Indien fand ich zu meinem Beruf als Reisereporterin. Einige Jahre stand mein Schreibtisch in Griechenland und ein Zweitbett auf einer irischen Ziegenfarm. Die Dauer eines Aufenthalts im Ausland ist aber nicht entscheidend für das Ergebnis meiner Arbeit. Hauptsache, es waren Gefühle im Spiel: Die Euphorie, sich mit hundert anderen Zugreisenden in einem Großraumschlafwagen durch Indien schaukeln zu lassen. Das stille Glück einer Nacht in der Wüste, wenn nur manchmal ein tiefes Grollen aus dem Inneren eines Kamels entweicht wie aus einem zusammengepressten Blasebalg, oder die einlullende Geborgenheit, die einem das wärmende Torffeuer schenkt, während draußen ein Wintersturm auf die irische Westküste zu rast. Da ist aber auch der Ekel vor den Kakerlaken, die fröhlich unter dem Restauranttisch tanzen, der Zorn über den buddhistischen Mönch, der einen seiner kleinen Schüler verprügelt, oder die Abscheu beim Anblick von Touristen, die vor der Hinrichtungswand in Auschwitz Selfies machen. In solchen Momenten ist das Reiseleben zu wahr, um schön zu sein.”

Weitere Informationen auf Nicoles Website: Quint & Quer

 

Fotos: Nicole Quint (2); John Eagle (4. von oben); Markus Bäuchle (2)