Mikrokosmos Felsküste

8. April 2020, Mittwoch.

 

Irland Corona

Irland in den Zeiten von C. Wir leben auf dem Land in Irlands äußerstem Südwesten, in einer Streusiedlung am westlichen Rand Europas, direkt am Atlantik. Auch in dieser einsamen, abgelegenen Gegend wird das Leben jetzt völlig vom neuartigen Coronavirus beherrscht. Wir, Eliane [e] und Markus [m], schreiben ein gemeinsames öffentliches Tagebuch über unser Leben in Irland in Zeiten von Corona. Heute schreibt Markus . . .

Wir müssen daheim bleiben. Gestern abend kam Patrick ans Tor, zum Schwätzchen mit Sicherheitsabstand. Patricks Frau Mary ist systemrelevanter  Teil des stets zuverlässigen lokalen Kommunikationssystems. Nun wissen wir Bescheid: Wir sind das Mecklenburg-Vorpommern Irlands. Es gibt nur wenige C-Fälle im Südwesten. Die Bedrohung ist auch hier omnipräsent – und doch eher gefühlt. Die Covid-19-Infizierten hier in der Bantry Bay lassen sich noch einer Hand abzählen. Zwei Menschen auf Beara, zwei in Bantry, einer in einem Nachbardorf – und einer über den Bergen in Kenmare. Einer der sechs Erkrankten ist im Krankenhaus in Cork am Virus gestorben.

In Irland steigen die Fallzahlen und die Zahl der Toten derweil beständig und bedrohlich an. Ein Ende der Krise ist nirgendwo in Sicht. Die Regierung bereitet sich gerade auf ein so schwieriges wie wichtiges Wochenende vor: Ostern. Der Gesundheitsminister hat gestern die Polizei mit allerhand neuen Vollmachten ausgestattet, damit sie die geltenden Reisebeschränkungen zur Not auch durchsetzen kann. Bislang operierten die Gardai noch mit Ratschlägen und Ermahnungen, um die Menschen in ihrem Zwei-Kilometer-Umkreis um die eigene Wohnung zu domestizieren. Wer ab heute fernab seines Wohnorts auf Vergnügungstour, im Ferienhaus oder bei Verwandten und Freunden  auffällt, muss mit Geldstrafen und im Wiederholungsfall mit Knast rechnen. Die Lage ist ernst, die Botschaft an die Bevölkerung klar: Wir müssen daheim bleiben.

 

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Beine baumeln am Meer . . .

Ist Urlaub ein Grundbedürfnis? So langsam beginnt es uns allen zu dämmern. Nach dem stornierten Osterurlaub wird es auch mit dem Sommerurlaub nichts werden. Die Urlaubsreisen 2020 fallen erst einmal aus. Langsam werden die Menschen in Europa auf einen standort-treuen Sommer vorbereitet. Der eine und andere Politiker lässt es durchblicken, ein Ärzte-Funktionär macht Andeutungen, die ersten Zeitungen greifen das Thema auf. Seltsame Vorschläge, den Sommerurlaub in den Herbst zu verlegen, machen die Runde. Und das Entsetzen wird immer größer: Was, kein Urlaub auf Malle, nix Antalya und auch nichts mit Kerry und wilden Fahrten am Atlantik?

Während manche noch auf ein Wunder warten – Argument: Wir hätten vor einem Monat auch nicht geahnt, was heute ist – bereiten sich andere schon seelisch auf einen ruhigen Sommer auf Balkonien, mit Ausflügen nach Siesta und Gartenien vor. Warum auch nicht. Wir veranstalten selber Wanderferien, und doch denke ich, dass die regelmäßige Urlaubsreise weder ein Grundbedürfnis noch ein Grundrecht ist. Die Welt wäre wahrscheinlich eine bessere, wenn sich mehr Menschen in ihrem Alltag so wohl fühlen würden, dass sie die kleinen Fluchten, zwei bis fünf pro Jahr mittlerweile in manchen Kreisen, nicht dringend benötigen würden.

 

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Weniger Geld, weniger Chancen? Patrick hat vier Kinder, drei leben noch daheim. Er macht sich Sorgen – um die Zukunft seiner Kinder. Patrick rechnet seit Jahren damit, dass die Finanzkrise von 2008 mit noch größerer Wucht zurückkehren würde. Nun scheint er Recht zu bekommen. Irlands Wohlstand ist in Gefahr. Nach dem C, so meint er, werden wir alle einen massiven Wohlstandsverlust hinnehmen müssen. Kehrt die Armut auf die Insel zurück? Weniger Geld, weniger Chancen, weniger Lebensqualität – und auch weniger Lebensfreude?

Patrick hat die Armut selber erlebt. Als er Kind war, war Irland das Armenhaus Europas. Er weiß noch, wie man improvisiert, wie man mit wenig durch kommt und das Beste draus macht. Seinen Kindern möchte er das Schicksal der eigenen Kindheit gerne ersparen. Er fürchtet nicht das Virus, sondern die Zeit danach.

 

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Ich bin Schüler von Beruf. André Heller wurde von Neidern und phantasiefreien Zeitgenossen immer mal wieder der Rang des Künstlers abgesprochen. Er antwortete dann souverän: “Ich bin Schüler von Beruf. Ich versuche mich lernend zu verwandeln.” Diese unverstellte Neugier auf die vielen Facetten des Lebens hat Heller wunderbare Ideen und Projekte beschert und ermöglicht. Im Jahr 1976 erschien auf seiner noch immer hörenswerten LP Abendland das Lied, das mir zum Lebensmotto wurde: Die wahren Abenteuer sind im Kopf. 

Ich habe Die wahren Abenteuer nie als Eskapismus in die eigene Innerlichkeit verstanden, nicht als Flucht vor der Welt, sondern als Möglichkeit der Kultivierung einer Parallelwelt. Mit einer lebendigen inneren Welt lässt sich die äußere Welt meist ganz gut aushalten – auch wenn gerade mal Ausgangs- oder Kontaktsperre angesagt sind.

 

“Die wahren Abenteuer sind im Kopf
Und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo!”

 

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Mikrokosmos Irland

Im Bach

Hass in Frankreich. Heute morgen las ich, wie Frankreichs Literatur-Star Leïla Slimani der blanke Hass von Manchen entgegen schlägt. Die viel gelesene Autorin hat sich rechtzeitig vor der Ausgangssperre aus Paris in ihr Landhaus abgesetzt – und schreibt dort ein öffentliches Tagebuch, das in der Tageszeitung Le Monde erscheint. Ihr privilegiertes Dasein gefällt Menschen in anderen Lebenslagen nicht. Im tief gespaltenen Frankreich Macrons wird Leïla Slimani eher “denen da oben” zu gerechnet. Sie nimmt den Hass gelassen: “Ich lasse mir nicht diktieren, was ich zu schreiben habe”, sagt die in Marokko aufgewachsene Schriftstellerin. Im Übrigen sei jedes Tagebuch Ausdruck einer subjektiven Sicht. “Aber keine Subjektivität ist schlechter oder besser als eine andere.”   (laut SPIEGEL)

Als der Einsamkeit zugewandte Autorin sollte Slimani nun eigentlich ideale Arbeitsbedingungen haben? Irrtum: “Man untersagt sich rauszugehen, man tut alles, um nicht gestört zu werden. Aber nun stelle ich fest, ich kann nicht schreiben. Nicht mit dieser Unruhe im Herzen. Ich kann nicht mehr richtig denken, die ersten Tage war ich wie gelähmt. Das, was da draußen gerade geschieht, ist so groß, dass man jetzt nur eines tun kann: warten, dass es vorbeigeht.”

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Ein Dank an alle, die sich in den vergangenen Wochen über die Beiträge im Irland-Tagebuch gefreut oder sich bedankt haben, die zustimmend kommentiert haben und die anderer Meinung waren. Danke auch denen, die das Tagebuch vermissen, wenn es nun nur noch als Alle-paar-Tage-Buch erscheint. Ich finde mittlerweile die Ruhe, auch anderes zu schreiben – und ich habe mich auf Entdeckungsreise begeben in unserem Mikrokosmos zwischen Dach und Meer, erkunde die Küste neu, die Felsen, die Bäche, die Flutzone, den kleinen Wald unter unserem Haus. Alles fast ganz brav im vorgeschriebenen Umkreis von zwei Kilometern. Das Virus hat mir ein Vergrößerungsglas zugespielt, das mich die vertraute Landschaft neu sehen lässt . . .

 

Irland Mikokosmos

Flut

Fotos: Markus Bäuchle; Vignette: Eliane Zimmermann