Der Hungry Hill mit Irlands höchstem Wasserfall (rechts).

Der Hungry Hill mit Irlands höchstem Wasserfall (rechts).

Manche Leute halten Werbung für die Systematisierung und PR für die Perfektionierung der Lüge. Man muss nicht gar so weit gehen, um die Wirkungsmacht der zweckdienlich manipulierten Phrasen, Sätze, Bilder und Filmsequenzen anzuerkennen. Allerdings haben die beiden Disziplinen ihre besten Tage hinter sich. Fakten sind das Gegengift , und die Nachprüfbarkeit von schlichten Behauptungen, Beschönigungen und Halbwahrheiten hat sich in der vernetzten Wissensgesellschaft drastisch verbessert. So verlieren lange gültige Kommunikations-Regeln dramatisch an Gültigkeit. Zum Beispiel diese: Behaupte etwas einfach so lange, bis alle glauben, es sei wahr, und dann ist es auch wahr.

Zweiter Sieger? Eine Postkarte vom Powerscourt-Wasserfall

Zweiter Sieger? Eine Postkarte vom Powerscourt-Wasserfall

Der anglo-irische Landadel beherrschte die Anwendung dieser Regel in Perfektion und nutzte sie in vergangenen Jahrhunderten eifrig zur Erzeugung genehmer Wirklichkeiten. Nehmen wir die Feudalmenschen von Powerscourt, einem ruhmreichen Landsitz im County Wicklow, in Kutschennähe zur Hauptstadt Dublin. Powerscourt House umstrahlte eine  Aura der Pracht, der Macht und der Superlative. So war es nur natürlich, dass die Leute von Powerscourt auch den fünf Kilometer vom Haus entfernten Wasserfall von Enniskerry unbesehen zum größten und besten und höchsten Wasserfall Irlands adelten. Es war immerhin ihr Wasserfall und der konnte gar nicht hoch genug sein. So wird der Sturzbach in den Wicklows bis heute als Irlands höchster gefeiert und besucht: Eine halbe Million Menschen pilgern jedes Jahr zu dem 121 Meter hohen Naturschauspiel am Fuß der Wicklow Mountains und berappen brav ihre 5,50 Euro Eintrittsgeld, um einen Superlativ erleben zu dürfen. Alleine: Es ist keiner, Millionen Wasserfallenthusiasten können irren.

Irrtum oder Schwindel? Die windigen Werber von Powerscourt müssen und dürften es spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts gewusst haben: Irlands höchster Wasserfall stürzt sich seit mindestens 10.000 Jahren auf der Westseite der Insel in die Tiefe. The “Mare´s Tail,” der Schwanz der Stute, ergießt sich aus einem Gletschersee im Felsmassiv des Hungry Hill auf der Beara Halbinsel aus über 330 Metern Höhe hinunter zur 100-Meter-Marke. Die englischen Landvermesser hatten dies in den detaillierten Karten von Irland in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dokumentiert. Der Hungry Hill-Wasserfall ist damit über 100 Meter höher als Irlands offiziell “höchster Wasserfall.” Das Problem: “The Mare´s Tail” hatte im bukolischen Adrigole nie eine funktionierende PR-Abteilung im felsigen Rücken. Keiner kümmerte sich um ihn, kaum jemand wollte ihn sehen, wie er sich in anmutiger Schönheit im freien Fall erschöpft. Macht aber nichts: Er verrichtet sein Geschäft zuverlässig und unbeirrt im fast Verborgenen. Als tosender und doch so stiller Champion.

Hungry Hill Waterfall

 

Fotos: Markus Bäuchle (oben); John Hinde (mitte); OSI (unten).