Wer eine Auszeit vom Alltagsstress nehmen will, wer dem Lärm der Stadt entfliehen will, wer ein wenig Abstand braucht von all den vielen Mitmenschen, wer Stille und Abgeschiedenheit sucht, der findet all das im ländlichen Irland. Fügt man die Attribute Berge, Meer, grüne Wiesen und reizende Landschaft hinzu, ist das perfekte Ziel für ruhebedürftige Urlauber schnell beschrieben. Auch die offiziellen Tourismusvermarkter wenden sich nach einem opportunistischen Ausflug ins modern-urbane Irland der Celtic-Tiger-Jahre wieder verstärkt dem ländlichen Teil der Insel zu. So wird der kleine Flughafen von Knock im County Mayo gerade zur Drehscheibe für einige hunderttusend landlustige Urlauber vom Kontinent aufgebaut.
Das Landleben wird in Deutschland in den letzten Jahren zunehmend zum Fluchtpunkt für für Romantiker, Eskapisten und ganz normale Leute stilisiert. Lifestyle-Magazine feiern das gute, einfache Leben abseits der Städte, penetrieren die schlichte Ästhetik des Landfrauen-Chics; der Traum vom eigenen Häuschen in der Natur mit eingebauter Selbstversorger-Option wird angesichts von Finanz- und Wirtschafskrise längst von der Mehrheit der Deutschen geträumt. Das ländliche Irland steht nicht umsonst bei vielen zivilsations-gestressten Mitmenschen auf dem Reise(wunsch)plan.
Dabei ist das Leben an diesen Traumorten für die, die immer schon dort lebten, oft ein Alptraum. Dass man das Landleben auf der Grünen Insel auch ganz anders sehen kann und oft anders sieht, daran erinnert die Tageszeitung „Irish Examiner“ in ihren gedruckten Ausgaben von gestern und heute eindrücklich und mit schrillen Überschriften: „Der Kampf gegen die Angst vor dem einsamen Landleben“, oder „Ländliche Isolation“ oder „Das Gespenst des Verbrechens verfolgt die Menschen auf dem Land“, oder: „Die Menschen hier haben Angst, ein Bier zu trinken“. Wie bitte?
Tatsächlich ist das glorifizierte Landleben für viele Irinnen und Iren wieder zu einem verzweifelten Kampf ums materielle und noch mehr, ums psychische Überleben geworden. Das Phänomen der isolierten, vereinsamten alten Menschen gab es auch in Zeiten, als sich Irland vorübergehend als „das reichste Land Europas“ feierte. Nun allerdings, in der anhaltenden Rezession haben mehr und mehr Landbewohner mit den Härten des Alltags abseits der Städte zu kämpfen: Isolation und Einsamkeit, Krankheit und Hilflosigkeit sind das Schicksal vieler Iren im ländlichen Raum. 40 Prozent der irischen Bevölkerung leben auf dem Land — und doppelt soviele Alte wie in den Städten. Viele junge Leute, die für einige Jahre in Zeiten des Baubooms auch in den Dörfern und Weilern der Insel Arbeit fanden, sie sind längst wieder weg — in der Stadt, im Ausland. Und mit ihnen gingen die Autos, die Mobilität, die Familienhilfe.
Vielerorts gibt es kaum öffentlichen Nahverkehr. Die in weitläufigen Streusiedlungen lebenden Menschen sind auf das Auto angewiesen, und wer keins hat, hat´s schwer, zum Lebensmittelladen, zum Arzt, zum Altennachmittag oder zu Freunden zu kommen — so man und frau denn welche hat, Der einsame Lebensstil nämlich hat viele Landmenschen im Laufe ihres Lebens zu verschlosenen Einzelgängern gemacht, die kaum soziale Kontakte pflegen, die nicht nach außen gehen und die nicht in der Lage sind, um Hilfe zu bitten. Die Konsequenzen: Vereinsamung, Verwahrlosung, Alkoholismus, Paranoia, Suizide.
Seit über drei Jahren frisst die Rezession weitere Löcher in die ohnehin überschaubare Infrastruktur: Die weltweit berühmten irischen Pubs, ein wichtiger Treffpunkt für die Leute auf dem Land, schließen massenweise — auch aufgrund strengerer Gesetze für Raucher und Alkohol-Konsumenten. Allein im vergangenen jahr haben 833 Pubs auf dem Land ihre Lizenz nicht verlängert. Poststellen, Kern der ländlichen infrastruktur, werden zunehmend wegrationalisiert. Ländliche Krankenhäuser werden demontiert, die Notfallabteilungen geschlossen. Auch die wenigen Busse, die die Dorfbewohner ein oder zweimal pro Woche mit der nächsten Stadt verbinden, sind in Zeiten leerer Kassen kaum noch zu finanzieren.
Anderseits gibt es Hoffnung. Das Thema „ländliche Isolation“ hat es in Irland zum öffentlichen Thema geschafft. Der viel zitierte Familiensinn der Iren ist nicht gänzlich erloschen, es lebt der Wunsch zu helfen. So entstehen Initiativen zur Unterstützung der isolierten Alten, Hilfsprogramme werden aufgelegt, um die Menschen aktiv anzusprechen, die sich jeder Hilfe verschließen und dennoch in großer Not leben; es werden Datenbanken aufgebaut mit den GPS-Daten der Häuser potentiell hilfsbedürftiger Mitmenschen.
Auch der Tourismus kann helfen, das ländliche Irland am Leben zu erhalten. Wenn Land-Romantiker aus der Stadt bei Land-Realisten vom Dorf zu Besuch kommen, können beide Seiten profitieren, trotz völlig unterschiedlicher Sichtweisen auf die Wirklichkeit.
Foto: Eliane Zimmermann
Sehr guter Artikel. Dem kann ich nur zustimmen. Das Landleben hat echt seine Tuecken. Ich lebe auch auf dem Land an der Westkueste Irlands. Nach dem Dauerfrost vom letzten Jahr war ich bis zu 6 Wochen praktisch von der Umwelt abgeschnitten. Ich bin zwar mit unueberhoerbarem Herzklopfen zur Arbeit gefahren und konnte auf dem Rueckweg noch einkaufen, jedoch einmal lebendig wieder zu Hause eingetroffen, brachten mich keine 10 Pferde mehr auf die Strasse. Die Strassen waren Stein und Bein gefroren. Das Sozialleben kam zu einem voelligen Stillstand. Oeffentliche Verkehrsmittel gibt es nicht und den Taxi-Bussen mit Hinterradantrieb und Sommenreifen hatte ich nicht getraut. Durch mangelhafte Isolation fror natuerlich das Wasser ein und die Heizkosten stiegen ins Unermessliche. Man stelle sich jetzt einen alten Menschen vor, mit seiner kleinen Rente, der Angst hat zu heizen, weil er sich das nicht leisten kann. Draussen herrschen wochenlang minus 10-17 Grad.
Ein „liebenswerter“ Mensch hatte mir dann fuer 5 Monate das Wasser abgestellt. Tja, oeffentliche Wasserversorgung gibt es nicht. Da hiess es dann, man muesse nach einer einer Quelle bohren, jedoch bei massiv gefrorenen Boeden, musste halt zugewartet werden…..
Warten wir mal auf das naechste Budget….!! Ich will gar nicht daran denken, was da wieder auf uns zukommt.
Ich moechte mein Leben trotzdem nicht veraendern, aber ich denke oft an die vielen einsamen alten Menschen. Das tut mir schon weh….
HALLO MARKUS,
SEHR GUTER BERICHT. TRIFFT DEN KERN DER SACHE. BESSER WIRDS NUR WENN ALLE ETWAS DAFÜR TUN.
GRUSS AUS DEM ALLGÄU
K U R T