Irland Geschichten erzählenStorytelling, die alte irische Tradition des Geschichtenerzählens, erfreut sich heute wieder großer Beliebtheit. Zu verdanken ist dies unter anderem der Dubliner Theater-Schauspielerin Nuala Hayes. Irlandnews-Autor Dirk Huck traf Nuala in Dublin und lauschte ihren Geschichten.

Es ist der ideale Ort, um spannende und unterhaltsame Geschichten zu erzählen: Die unheimlich wirkende Krypta unterhalb der mächtigen Christ Church Cathedral in Dublin. Es ist Ende Januar, das Wochenende des Temple Bar Trad Festivals 2012, eine bunte Veranstaltung rund um traditionelle irische Kultur. Vor einer Nische in der Krypta hat sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Ein Storytelling-Event findet statt. Gekommen sind überwiegend Familien mit kleinen Kindern. Sitzplätze gibt es nicht, es wird improvisiert. Eltern schicken ihre Kinder nach vorne, wo sie auf ausgelegten Kissen Platz nehmen können. Die Erwachsenen suchen sich auf dem harten Steinboden ein Plätzchen, hocken sich an Wand oder bleiben stehen, die Kleinen stets im Blick.

In der Nische sitzen die Geschichtenerzählerin Nuala Hayes und neben ihr ihre musikalische Partnerin Anne-Marie O’Farrell. Während Anne-Marie auf der großen irischen Harfe zur Einstimmung des Publikums ein Stück spielt, sitzt Nuala Hayes abwartend auf dem fürstlich anmutenden Sessel und blickt in die Runde. Noch herrscht ein wenig Unruhe. Überall wird geraschelt und geflüstert, Kinderwagen werden beiseite geschoben, einige Kinder suchen sich auf den Kissen noch ein freies Plätzchen, andere laufen wieder zurück zu ihren Eltern, weil es ihnen dort vorne an der Nische doch ein wenig zu unheimlich ist.

Nuala Hayes erzählt irische GeschichtenDas Spiel auf der Harfe endet. Nuala Hayes beugt sich vor. „Habt ihr denn schon mal von dem Teufel gehört?“, fragt sie geheimnisvoll in die Runde. Die Kinder blicken mit großen Augen, die Erwachsenen schmunzeln. Erwartungsvolle Stille breitet sich aus.

Und Nuala erzählt die Geschichte vom Teufel, der einem Dorf anbietet, kostenlos eine Brücke über den Fluss zu bauen, unter der einen Bedingung, dass der Erste, der die Brücke überquert, ihm gehört. Eine andere Geschichte handelt von dem Jungen Packy, der mit seiner Mutter in einem abgelegenen alten Cottage lebt, und der eines Tages auf einem Streifzug durch den Wald den Fairies begegnet, die ihn entführen wollen.

Gebannt folgen die Kinder und auch die Erwachsenen den spannenden Geschichten, die Nuala mit den Ausdrucksfähigkeiten einer Schauspielerin vorträgt: Sie seufzt, sie hebt die Stimme, sie flüstert, sie wendet im Dialog abwechselnd den Kopf, um die Gesprächspartner darzustellen, sie lacht, sie weint vor Schmerzen, sie gerät außer Atem, sie zeigt Wut und Freude, sie senkt schüchtern den Blick, greift mit ihren Händen nach unsichtbaren Dingen oder wehrt Gefahren ab.

Nuala Hayes, Anfang sechzig, ist ausgebildete Schauspielerin. Sie ist Absolventin der renommierten Schauspielschule am Abbey Theatre in Dublin. In ihrer langen und mit Auszeichnungen gekrönten Laufbahn als Theater-Schauspielerin spielte sie in zahlreichen Stücken bekannter irischer Dramatiker, von John B. Keane über Séan O’Casey bis Samuel Beckett. Außerdem wirkte sie in zahlreichen Produktionen für Radio und Fernsehen mit. Dem irischen TV-Publikum ist sie als Sibéal Goldstein aus der TG4-Fernsehserie „Ros na Rún“ bekannt, eine der wenigen TV-Serien, die in Gälisch produziert werden.

Irlasnd StorytellingFür das Storytelling als eine Sonderform der darstellenden Künste interessiert sich Nuala seit Anfang der 1990er. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hatten professionelle Storyteller, sogenannte Seanchai, den Menschen in den Dorfgemeinschaften auf dem Land Nachrichten und unterhaltsame Geschichten gebracht. Mit dem Aufkommen von Radio und Fernsehen starb diese Tradition weitgehend aus. Der charismatische Eamon Kelly (1914 – 2001), Irlands letzter großer Seanchai, mit dem Nuala am Theater zusammenarbeitete, inspirierte sie, Storytelling als moderne Unterhaltungsform wieder aufleben zu lassen.

Nuala entwickelte ein modernes Darbietungskonzept für zwei Akteure, bei dem Wort und Musik zusammenkommen: Von Musik begleitetes Erzählen von Geschichten. 1991, als Dublin europäische Kulturhauptstadt war, trat Nuala mit ihrem Konzept an Kleinbühnen heran. Der Erfolg überraschte alle. „Es war, als hätten wir etwas wachgerüttelt, das eigentlich immer da war, aber die ganze Zeit über geschlummert hatte“, sagt Nuala stolz.

Heute ist Storytelling Nualas zweites berufliches Standbein neben der Schauspielerei. Über zehn Jahre hinweg, von 1991 bis 2000, organisierte sie Dublins bekanntes Storytelling-Festival „Scéalta Shamhna“ (zu Deutsch: „Geschichten zu Halloween“), das jährlich im November stattfand. „Festivals sind das Lebensblut der Storyteller“, erklärt Nuala. Sie selbst trat auf zahlreichen Festivals in Europa und Nordamerika auf, und ist häufig Gast auf großen Kulturveranstaltungen wie Kulturnächten oder dem Temple Bar Trad Festival in Dublin.

In der Krypta der Christ Church Cathedral herrscht etwas Unruhe. Besucher des Trad Festivals kommen und gehen und drängen an der kleinen Gruppe um Nuala herum vorbei. Doch Nuala und ihr Publikum lassen sich nicht ablenken. Mit ihrer Professionalität als Geschichtenerzählerin trägt Nuala unbeirrt ihre Geschichten vor, ihre Zuhörer lauschen aufmerksam. Nur die ganz Kleinen werden nach einigen Minuten Zuhörens etwas unruhig und laufen zurück zu Vater oder Mutter, die nur ein paar Meter hinter ihnen sitzen, um von deren Schoß aus weiter den Geschichten zu lauschen.

Nuala beendet ihre Geschichte um den Jungen Packy und legt eine kurze Pause ein. Anne-Marie spielt währenddessen auf der Harfe. „Kennst du die Geschichte von Balor?“, fragt plötzlich ein kleiner Junge Nuala. Nuala beugt sich vor. „Balor mit dem bösen Auge?“, fragt sie zurück, erfreut über Feedback aus dem Publikum. Der Junge nickt. „Nun gut“, sagt Nuala ans Publikum gewandt, „auf besonderen Wunsch nun die Geschichte von Balor mit dem bösen Auge.“ Und Nuala entführt ihre Zuhörer in das Reich der alten keltischen Sagen, wo die Krieger magische Kräfte haben, blutige Schlachten geführt werden und düstere Prophezeiungen den Lauf der Dinge vorhersagen.

„Ein Geschichtenerzähler nimmt seine Zuhörer mit auf eine Reise“, erklärt Nuala. „Wenn er die Geschichte gut erzählt, folgen sie ihm bereitwillig.“ Gutes Storytelling verlangt Improvisation. Der Erzähler muss auf das Publikum eingehen. Nuala liebt die Interaktion mit dem Publikum. Sie hilft ihr, eine Geschichte so zu präsentieren, dass ihr die Zuhörer bereitwillig folgen.

„Eine Geschichte ist ein eigenartiges und äußerst delikates Ding“, sagt sie. „Sie existiert gar nicht, sofern man sie nicht jemandem erzählt. Und wenn man sie nicht richtig erzählt, fällt sie in sich zusammen und löst sich auf.“

Ihre Geschichten bezieht Nuala überwiegend aus dem reichhaltigen Fundus alter irischer Sagen und Legenden. Doch ihr Interesse für irische Folklore reicht weit über das Erzählen von Geschichten hinaus. Zweimal, 2003 und 2005, war Nuala sogenannter Artist-in-Residence. Dabei handelt es sich um ein Förderprogramm, bei dem Künstler ein Stipendium erhalten, um gemeinnützige, kreative Projekte verfolgen zu können. Während ihrer Zeit auf Cape Clear im Südwesten Irlands arbeitete Nuala  zum Beispiel mit älteren Menschen. Sie half mit, deren Geschichten und Erinnerungen zu sammeln und aufzuzeichnen.

„Für mich sind Geschichten die Essenz, die Grundlage dessen, was wir sind“, erklärt Nuala.

In der Krypta der Christ Church gibt es Applaus. Die Geschichte ist zu Ende. Der böse Balor ist besiegt. Getötet von seinem eigenen Sohn, wie es die Prophezeiung vorausgesagt hatte. Zum Ausklang der Geschichte spielt Anne-Marie auf der Harfe. Im Publikum herrscht allgemeine Aufbruchstimmung. Mehr als vierzig Minuten lang haben Erwachsene und Kinder den Geschichten Nualas gelauscht, einige Kinder mit mehr Aufmerksamkeit, andere mit weniger. Ein paar ganz kleine Kinder sind auf den gemütlichen Kissen gar eingeschlafen und müssen von ihren Eltern geweckt werden.

Nuala lächelt, als sich ihre Zuhörer bedankend vor ihr verabschieden. Sie ziehen weiter, um an diesem Nachmittag noch andere Attraktionen des Temple Bar Trad Festivals zu besuchen. Es locken Musik und Tanz, traditionelles Handwerk und Tiere zum Streicheln. Doch keine der anderen Veranstaltungen wird ihnen wohl das geben können, was ihnen das Storytelling-Event gab: Geschichten, in denen man der eigenen Phantasie freien Lauf lassen kann. Geschichten zum Träumen.

Mehr über Nuala Hayes und Irlands moderne Storyteller lesen sie auf  www.storytellersofireland.org