Zeugen der Vergangenheit: Irland wird eine direktere Verbindung zur Vergangenheit nachgesagt als anderen Ländern. Das mag auch daran liegen, dass die Spuren vergangener Generationen heute allgegenwärtig sind.
Gerade im ländlichen Irland stehen noch immer tausende verlassene Hausruinen aus der Zeit des großen Hungers Mitte des 19. Jahrhunderts. Viele Hausbewohner sind in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten ausgewandert und ließen ihre schlichten Cottages zurück — oft mit zerstörtem Dach, um der Steuerpflicht zu entgehen.
Besucher unterstellen bisweilen, dass die Ruinen „aus Bequemlichkeit“ nie entfernt wurden. Tatsächlich symbolisieren die alten verlassenen Gemäuer die Hoffnung und die Zuversicht, dass geliebte und vermisste Menschen einst zurückkehren würden aus der Ferne und der Familie und den Nachbarn zuhause wieder nah sein würden.
Foto: Hausruine in einem „Famine Village“ in den Bergen von West Cork. Im Hintergrund der Hungry Hill; © 2013 Markus Bäuchle / Wanderlust
[edit10062013]
John O’Donohue hat in einem seiner Bücher eine Anekdote aus Connemara festgehalten, um die Heiligkeit irischer Ruinen zu veranschaulichen. Ein Mann, dem die alten Steine eines verfallenen Hauses ideal erschienen, um einen Weg zu pflastern, fragte den Eigentümer der Ruine, ob er die Steine haben dürfe. Dieser lehnte jedoch ab: „Was würden denn die Geister meiner Ahnen dann machen?“ Offenbar glaubte er fest daran, dass seine Vorfahren in ihrem einstigen Heim immer noch gegenwärtig waren.
Ich habe die Ruinen des Deserted Village auf Achill Island erlebt. Im Regen und in der düsteren Trostlosigkeit dieser Gegend. Das Dorf umfasst noch ca. 80 Steinruinen, manche noch recht gut erhalten, andere schon sehr verfallen. Am Fuss des mächtigen Slievemore wo nichts ist als Fels und Kargheit liegt das ehemalige Dorf. Es ist sehr schwer vorstellbar, wie Menschen eine Zeit lang dort leben, bzw. überleben konnten während der großen Hungersnot.
Als ich durch die hinteren Reihen lief, entdeckte ich einen Mann, der in einer der Ruinen arbeitete. Er entfernte Wildwuchs und Steine aus dem Innenraum des Hauses. Wir kamen ins Gespräch und er erzählte mir, dass er diese Ruine gekauft hätte und wieder aufbauen wolle. Er sei ein Nachfahre und habe es sich zur Aufgabe gemacht, zusammen mit seinen Söhnen und einem Neffen, dieses Haus wieder aufzubauen und dann das nächste zu kaufen und herzurichten.
Die Slievemore Cottages bergen sicher nicht die Hoffnung auf Rückkehr, sondern die Hoffnung darauf, dass dieser Teil der irischen Geschichte niemals vergessen wird.
Ich habe auch mal gehört, dass die gläubigen Iren die Häuser auch deshalb nicht abreißen, weil Ihnen das Material von der Natur und Gott gegeben wurde und es dann der Natur wieder zurück gegeben wird, wenn die Häuser nicht mehr benötigt werden. Ob es stimmt weiß ich nicht, aber die Vorstellung finde ich auch schön.
Ist es so? Symbolisieren sie die Hoffnung auf Rückkehr? Ich habe sie immer eher wie Denk-mäler emfpunden, ähnlich wie Grabsteine.
Besonders eindrucksvoll und innerlich angerührt habe ich vor einigen Jahren ein verlassenes Dorf – oder wie Heinrich Böll es nennt „Skelett einer menschlichen Siedlung“ – auf Achill Island erlebt. Mit Bölls Worten im Ohr: „…Zeit und Elemente haben alles in unendlicher Geduld weggefressen, was nicht Stein war, und aus der Erde wachsen Polster, auf denen diese Gebeine wie Reliquien ruhen: Moos und Gras.“
Ich mag diese Ruinen( auch wenn sie ein eher trauriges Zeugnis abgeben ), gehören sie für mich zu Irland dazu und sind fast immer ein Foto wert .
Es gibt bestimmt zu jeder eine Geschichte, die den Lauf des Lebens wieder gibt. Da man sie aber meistens nicht erfährt, kann man seiner Fantasie freien Lauf lassen und sich überlegen wie hier wohl gelebt wurde.