Zwischen den StühlenSchreiben und Wandern ist heute das Thema in eigener Sache. Wer hier auf Irlandnews regelmäßig liest, weiß, dass ich, Autor dieser Beiträge, Irland sehr mag. Das umfasst die Landschaft, die Menschen und die Lebenslagen Urlaubsort, Lebensort und Arbeitsplatz Irland. Mein Buch über Irland habe ich als Liebeserklärung geschrieben. Dennoch bleibt nicht aus, dass ich an dieser Stelle immer wieder einmal Kritisches über Land und Leute veröffentliche.

Wanderlust IrlandWir leben und arbeiten  seit 14 Jahren auf der Insel und wir haben in diesen Jahren in vielschichtiger Weise erlebt, was wir vor unserem Umzug vermutet haben: Dass Irland nicht den Heiligen Gral beheimatet, nicht Shangrila ist, nicht Feenland, nicht der Himmel auf Erden und auch nicht der Ort immer währender Geborgenheit. Man stelle sich vor: Auch hier gibt es Alltag, Nerv, Stress, Lüge und Betrug, Umweltprobleme, Krankheit, schlechte Krankenhäuser, Nachbarn, Spießer, Flachbohrer und Dummschwätzer. Warum auch nicht. Manch einer hier hat auch wenig schmeichelhafte Attribute für uns parat, die Blow-ins, die f***king Germans, die unverschämt Unverblümten, die zweibeinigen Milchkühe. Warum auch nicht. Insgesamt aber lässt sich hier gut arbeiten und noch besser leben. (Die Gründe beschreibe ich immer einmal wieder in meiner persönlichen Inventur: Die Gründe, warum wir Irland lieben und hier leben

Interessant bleiben für mich die Reaktionen von  Lesern, wenn ich über Irland schreibe. Die schönen Fotos und die netten Geschichten über die grüne Insel: Geschenkt, das kommt gut an, bekommt “Likes” und positive Kommentare. Schreibe ich Kritisches, dann gibt es neben mancherlei Zustimmung drei typische Abwehr-Reaktionen — vor allem von Irlandfans und Irland-Urlaubern.

Reaktion 1: Deutschland (ersatzweise die Schweiz oder Österreich) ist auch nicht besser. Meist ließe sich darauf mit diesen Textmodulen antworten: a) Ja, stimmt. Aber das macht die Situation in Irland überhaupt nicht besser.   b) Nein, stimmt nicht. Aber wie willst Du genauer hinschauen können in drei Wochen Urlaub.

Reaktion 2: Uns als Deutschen steht diese Kritik nicht zu. Wir sind Gäste in Irland. Meine Antworten, die ich selten gegeben habe, weil ich nur in Ausnahmefällen Kommentare kommentiere: a) Schlimm genug, dass uns ständig der Mund in Sachen Israel verboten werden soll.  Jetzt auch noch Irland ;-) und  b)  Wir sind Bürger Europas mit Wohnsitz im EU-Land Irland. Wir sind gleichberechtigte Mitglieder der lokalen Gemeinde — nur das Wahlrecht zu den Parlamentswahlen enthält man uns bislang zu Unrecht noch vor. Unsere Stimme zählt genauso viel wie die jedes anderen Europäers (irgendwann auch: Menschen?) auf der kleinen grünen Insel.

Reaktion 3: Was Du schreibst, stimmt doch gar nicht. Ich habe das ganz anders erlebt. Irland ist viel besser als  [ . . . ] . Irland ist mein Lieblingsland, das ich mir von Dir nicht schlecht machen lasse (nur weil Du die ganze Schönheit und Erhabenheit Irlands nicht erkennen kannst).

Dieser regelmäßig geäußerte Appell, die Wohlfühlwelt und Seelenoase  Irland nicht in Frage zu stellen, nenne ich inzwischen den “Böll-Komplex“. Heinrich Böll (Foto) und seinen Klassiker “Irisches Tagebuch” kennt fast jeder, der sich jemals in Richtung Insel aufgemacht hat, und manche behandeln das Büchlein noch 57 Jahre nach Erscheinen wie einen aktuellen Reiseführer. In meinem Buch “Irland. ein Länderporträt” (2. Auflage Juli 2014) beschreibe ich den Böll-Komplex ausführlich:

Heinrich Böll: Irisches Tagebuch forever.  Foto: Bundesarchiv/Wikimedia

Heinrich Böll: Irisches Tagebuch forever. Foto: Bundesarchiv/Wikimedia

“Einem anderen großen Image-Gärtner aus den höchsten Sphären der Weltliteratur können die Irland-Werber in Deutschland bis heute nicht genug danken. Er war nicht vom Fach, doch er leistete ganze Arbeit: Der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll veröffentlichte im Jahr 1957 sein »Irisches Tagebuch«, das Generationen von Irland-Fans und Irland-Reisenden in seinen Bann zog und auf die Reise schickte. Der Schriftsteller, der sich mit Irland und den Iren wahlverwandt fühlte, zeichnete das durchweg positive Bild eines Volkes, das lebte, als gäbe es kein Morgen, zeitlos, stolz, frei, auch unschuldig, träumerisch, der Musik und dem Alkohol immer zugetan. Der Katholik Böll idealisierte das einfache Leben, er sympathisierte mit dem Primat von Priestern und Promille, er pries die Freiheit des irischen Lebens und schuf letztlich einen imaginären Sehnsuchtsort für die deutsche Seele. Bölls »Irisches Tagebuch« erreichte eine Millionenauflage, noch heute findet der schmale Band mit den 18 Geschichten seinen Platz im Reisegepäck nach Dublin oder Cork und hilft, das romantisierte Bild von Irland am Leben zu halten.

Der deutsch-irische Schriftsteller Hugo Hamilton interpretierte Bölls Tagebuch in einem Beitrag für den Guardian einmal so: »Das ›Irische Tagebuch‹ war überhaupt kein Buch über Irland. Es war ein Buch über all das, was in Deutschland damals fehlte.« Zum Beispiel Zugehörigkeit zu den Menschen und dem Ort oder eine Verbindung zum Seelenraum der Landschaft. Hugo Hamilton wies als Kenner beider Welten ohne Umschweife auf die unterschiedliche Rezeption des Buches in Deutschland und in Irland hin: »Die Iren hassten es. Die Deutschen liebten es« und folgerte: Hätte Böll dasselbe Buch über Deutschland geschrieben, man hätte es ihm als faschistisch ausgelegt.

Doris Dohmen analysierte 1994 in einem klugen Buch über das Irlandbild der Deutschen, was Heinrich Böll in Irland wirklich gesucht hatte: »Böll gibt im ›Irischen Tagebuch‹ […] eine teilweise idealisierte, utopisch anmutende Darstellung Irlands und der Iren. Seine Irlandfahrten gleichen der klassischen Suche nach der griechischen oder italienischen Idylle, in seinem Fall nach einer Gegenwelt zum Wirtschaftswunder-Deutschland. […] Die Idealisierung des Landes erfolgt wohl teilweise wider besseres Wissen: Die Bezeichnung der Iren, in frühen Zeiten gefürchtete Seeräuber, als friedfertiges Volk, dient nicht der Abbildung von Wirklichkeit, sondern der Entkräftung des Barbaren- und Paddyimages. Böll ist nicht an der Wiedergabe historischer Fakten, sondern an der Vorbildfunktion der irischen Gesellschaft für das zeitgenössische Deutschland interessiert.« Dohmen kommt in ihrer Dissertationsschrift zum Ergebnis: »Das ›Irische Tagebuch‹ kann als die erfolgreichste aller Touristenbroschüren gelten. […] Es löst eine Welle der Irlandbegeisterung aus. Es wird zum Kultbuch einer Generation von Irlandurlaubern, denen die Insel als Gegenbild zu traditionellen Reiseländern mit durchorganisiertem Massentourismus sowie zum hoch industrialisierten Deutschland erscheint.« Böll wirkte und wirkt noch immer.”

Ich liebe es, auf der Spitze eines einsamen und ebenso beseelten Berges in Irland zu sitzen, die Zeit zu vergessen, nur zu atmen und über die weite Landschaft zu schauen. Eins mit der Natur zu sein, ganz bei mir und Teil der Welt. Ich verstehe die Sehnsucht nach einem solchen Ort und Seins-Zustand gut. Wir müssen uns aber auch immer wieder fragen, warum wir diese Gegenwelt denn überhaupt benötigen? Sechs Wochen Urlaub und Gegenwelt, in Ordnung. Was stimmt mit den restlichen 47 Wochen des Jahres nicht? Die Kernfrage: Was können wir tun, um uns rund ums Jahr wohl zu fühlen? Wie können wir mit unseren begrenzten Mitteln verändern, was uns das Leben schwer macht? (Was macht Ihnen am meisten zu schaffen?)

Wandern in West Cork

Jedem seinen eigenen Berg

Als Journalist/Autor einerseits und Veranstalter von Wanderreisen (www.irland-wandern.de)  und Wildnis-Touren (www.irlands-wildnis.de) andererseits, als Journalist und Wanderer, sitze ich regelmäßig zwischen den Stühlen — einem Ort, der mich zumindest davor bewahrt, schnell bequem und träge zu werden. Die Menschen, die mich als Journalisten ansprechen, werfen mir gerne vor, ich wäre ein Weichzeichner, ich würde “die ganze Wahrheit” zurück halten und zu positiv über Irland berichten. Die anderen Menschen, die in mir den Zeitgenossen sehen, der vom Tourismus und von Urlaubsträumen lebt, kristisieren, ich sei zumindest undankbar, wenn nicht sogar ein Brandstifter im eigenen Haus: Als Irland-Touristiker dürfe man nicht kritisch, negativ oder allzu offen über das Land schreiben. Man müsse Marketingssprech pflegen und Träume illlustrieren. Soso.

Warum eigentlich? Ich versuche auf meinem Platz zwischen den Stühlen authentisch und ehrlich zu sein. Immer derselbe. Kein Wackelbildchen mit zwei oder drei Gesichtern. In dieser Position kann ich meinen Lesern versprechen, über Irland mit meiner ganzen Sympathie und grundsätzlichen Zuneigung zu berichten — auch wenn es einmal um die weniger schönen Seiten des Landes geht. Und unseren Wandergästen zeigen wir die schönsten Orte eines wundervollen kleinen Landes, das eben auch nur von dieser Welt ist und in dem die Menschen einen Alltag bestehen müssen, der sich meist nicht wie Urlaub anfühlt. Unsere Gäste jedenfalls genießen den Wanderurlaub in einem landschaftlich einzigartigen Land, in dem sie auch  hinter die Fassaden des offiziellen Tourismus-Images blicken können.  Die  Zeiten ändern sich, und die Ansprüche an eine Reise ändern sich mit ihnen.    

In diesem Sinne, auf viele nachdenkenswerte neue Zeilen und viele interessante neue Wege zu Fuß.

Markus, Journalist & Wanderer.
markus@irlandnews.com