Vergessene Orte Irland

Darf man in Zeiten des Über-Tourismus ein Buch über Seelenorte publizieren? Die kleinen, versteckten Schätze am Rande der bekannten Routen outen? Darf man die stillen Orte Irlands in einem Online-Magazin wie Irlandnews vorstellen, die letzten Geheimtipps und Lieblingsorte preis geben und der Urlauber-Meute zum Konsum ausliefern? Die Frage wird durch das neue Buch Soul Places Irland, das wir hier vorgestellt haben, ein weiteres Mal aufgeworfen. Man könnte nun platt antworten: Natürlich darf man das. Wir leben doch nicht im Iran („Meine Bewunderung für die mutige Sängerin Parastoo Ahmadi“) oder unter dem grausamen Rocket Man in Nordkorea. Wer will einen in einem freien Land daran hindern? Die Frage hinter der Frage verschwindet dadurch nicht: Tun wir das Richtige, wenn wir es tun? Handeln wir angemessen und verantwortungsvoll? Einige Gedanken . . .

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Der geschätzte Denker Hans-Magnus Enzenberger hat schon vor 66 Jahren gewusst: „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet.“ Enzensberger hat früh in den Jahren des anhebenden goldenen Konsumzeitalters die selbstzerstörerische Kraft des Massentourismus analysiert. Er sollte Recht behalten und konnte doch nichts verhindern. Gar nichts. Tourismuskritik blieb ein halbes Jahrhundert lang ein wohlfeiles Denkvergnügen für Intellektuelle, während das Volk mehr oder minder vergnügt reiste. Doch nun stecken wir inmitten der touristischen Zeitenwende. Seit ein paar Jahren geht das Volk selber gegen den Massenansturm der Vergnügungsreisenden auf die Barrikaden. Die Besuchten wehren sich gegen die Besucher: Sie wollen ihr Leben, ihren Wohnungen, ihren Alltag, ihren Stadtteil oder ihr Dorf zurück. Der Tourismus wendet sich abermals gegen sich selber und zerstört nun nicht mehr nur die eigenen Grundlagen sondern gleich sich selbst.

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In den vergangenen Wochen war ich oft zu Fuß an der Küste unserer Bucht im Südwesten Irlands unterwegs. Nur wenige Kilometer von Tourismus-Zentren wie Glengarriff, Bantry oder Casteltownbere entfernt (Fotos). Ich ging an Orte, an die ich immer schon gehen wollte und die sich dem leichten Zugang wiedersetzen, lief viele Kilometer  entlang der Hochwassermarke und kam an Plätze, an denen offensichtlich seit Jahren niemand mehr war und deren Namen ich erst lernen musste. Die Wege dorthin zugewachsen, fast verschwunden, das Weideland aufgegeben.

Die Menschen haben sich aus der Landschaft zurück gezogen. Manor West statt Goose Rock. Hier fehlen nicht nur die Gänse. Die Menschen haben erst aufgehört und dann vergessen, hinunter zum Kieselstrand zu gehen. Sie fahren statt dessen  in ihren schönen neuen Autos in die Shopping Mall in die Stadt. Was ich seit Jahren wußte, stimmte mich traurig. Erst verschwinden die Gewohnheiten, dann die Wörter dafür, die Namen für Orte und Wege, dann die Erinnerung – die Verbindung, die Liebe dafür. Wer soll einen Ort schätzen und schützen, zu dem er die Verbindung verloren hat?

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Wir alle kennen dieses Paradox: Wir haben ein wunderschönes einsames Plätzchen entdeckt, das wir eigentlich nur alleine genießen oder mit der Liebsten besuchen wollen. Andererseits wollen wir diesen Ort gerne auch all unseren Freunden zeigen, die Freude mit diesen teilen und uns vielleicht ein wenig im Lichte unserer Entdeckungskunst sonnen. Im schlimmsten Fall verwechseln wir Social-Media-Freunde mit wirklichen Freunden und geben den Platz unangemessen zeigefreudig öffentlich im Internet preis.

Irlandnews-Leserin Claudia schrieb vor einer Weile diesen Kommentar zu unserer Serie Die stillen Orte Irlands:

„Ich finde es außerordentlich bedauernswert, dass hier auch die letzten noch ruhigen, oder stillen Orte der Öffentlichkeit preis gegeben werden. Wer solch einen Ort noch erleben durfte, würde ihn auch gerne in der Zukunft noch so ruhig wissen. Menschen, die solche Plätze nicht selbst entdecken, müssen doch nicht unnötig darauf aufmerksam gemacht werden. Schade. Und dann auch noch der hype, da es ja ein Filmort war. Hier wird eine weitere Welle an Touristen, die nur an Selfies an eben solchen Orten interessiert sind, losgetreten. Davon gibt es schon genug. Lasst stille Orte still bleiben.“

Hat Claudia recht? Ich habe mir dieselbe Frage oft gestellt und ich verstehe, was sie sagt. Es gibt so viele zivilisierte, laute, verbaute, heimgesuchte, überbesuchte und zerstörte Plätze auf dieser Welt, die stillen werden täglich weniger. Sollen wir stille Orte also still sein lassen?

Ich antwortete: „Wir lassen die stillen Orte still sein, ohne der elitären Vorstellung zu verfallen, dass nur wir das Recht hätten, sie zu besuchen. Die Serie ist eine Werbung für den Stillen Ort und lädt die Menschen ein, in die Stille zu gehen. Sie ist eine Werbung für die Stille selbst und will LeserInnen dazu ermuntern, sich selber an einem harmonischen Platz mit der Natur oder der Kulturlandschaft in der Ruhe zu verbinden. Wir stellen keine spektakulären oder sensationellen Orte vor. Mit diesen Orten kann man nicht prahlen. Sie eignen sich nicht für Spektakel. Aber man kann sie und dabei sich selbst erfahren. Wenn dies mehr und mehr Menschen tun, nähren wir die Hoffnung auf Umkehr. Die schönen Orte, die wir lieben, werden wir nicht zerstören. Wir wollen sie schützen und geschützt wissen.“

Mein Bild von den Irlandnews-LeserInnen gab mir zusätzliche Gewissheit: Sie würden die Orte mit Behutsamkeit und Respekt behandeln. Es gibt nichts zu befürchten. Und schließlich: Es gibt tatsächlich fragile Orte, die auf Diskretion, Schutz und Verschwiegenheit angewiesen sind, damit sie nicht zerstört werden. Diese Orte werden wir niemals auf Irlandnews vorstellen.

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Neben der Spur: Der Wild Atlantic Way hat auch seine Vorzüge. Das Marketingkonzept, das Irland den Weg in den Massentourismus bescherte, vermittelt Urlaubern mit magischer Hand, was sie zu tun haben. Jeder fährt dieselbe Route, jeder macht das Gleiche – und alle sind zufrieden: die Gästezähler in Dublin, die neuen Pauschalurlauber und die Tourismusbetriebe entlang der irischen Atlantikküste. Der Vorteil: Die Urlauberströme konzentrieren sich auf der Rennstrecke entlang der ausgewiesenen Aussichtsplätze, die jeweils einen Zwischenstopp mit Foto-Option ansagen – viele Orte abseits der Route werden dagegen vom Tourismus nicht oder nicht mehr berührt. Das mag die Menschen schmerzen, die sich im wirtschaftlichen Abseits sehen – der Natur und den nicht-menschlichen Lebewesen tut es gut.

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Was mir das Recht gebe, gegen ein Tourismusprojekt zu sein, das 650 Menschen pro Stunde per Seilbahn auf die abgelegene Insel Dursey an der Spitze der Beara-Halbinsel befördern kann, wurde ich immer wieder gefragt? Ob nicht jeder Mensch genau dasselbe Recht hätte wie ich, Dursey Island zu besuchen und die Schönheit der Insel zu genießen? Das ist natürlich so. Ich beanspruche keine Sonderrechte, es soll keinen privilegierten oder elitären Zugang für die Wenigen geben, der die Vielen ausschließt. Wenn für den Zugang nach Dursey eine ökologisch verträgliche Obergrenze für jährliche Besucher festgelegt wird, dann hat jeder Mensch erst einmal die gleiche Zugangschance.

Ökologen und Überlebensstrategen fordern, dass wir Menschen unserem unersättlichen Expansionsdrang endlich selber Grenzen auferlegen und maximal die Hälfte der Landfläche dieses Planeten für uns beanspruchen. Die andere Hälfte soll für alle anderen, die nicht-menschlichen Lebewesen da sein, von uns bewahrt und verschont werden. Auch wenn die Umsetzung dieser Idee schwierig ist, sie besticht, weil sie einfach zu verstehen ist: Hunderttausende Arten auf unserer Erde bekommen die Hälfte, wir Menschen, die derzeit dominante Spezies, die andere Hälfte. Diese Rechnung ist im übrigen durchaus menschenfreundlich, denn wenn wir uns nicht selber beschränken und mit dem Ausrotten und Zerstören munter weiter machen, werden nicht nur die anderen Lebewesen auf der Strecke bleiben. Ich würde also darauf verzichten, Dursey Island wieder zu besuchen. Allerdings: Der Tourismus-Zirkus am Dursey Sound mit Mega-Seilbahn und Besucherzentrum ist gescheitert. Dursey Island bleibt auf absehbare Zeit ein stiller Ort.

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Wir sollen stille Orte, besondere Orte, natürlich wirkende Orte in Ruhe lassen? Aus diesem Verständnis ergibt sich, dass wir viele Landstriche und Landschaften von uns verschonen müssten. Dass dies vorzugsweise die Orte sind, an denen heute noch weitgehende Ruhe herrscht und die ökologisch noch einigermaßen intakt sind, liegt auf der Hand. Niemand wollte die Hälfte Manhattans zur Schutzzone für Nicht-Menschen erklären. Klar ist auch, dass Orte wie das landwirtschaftlich genutzte Dursey Island längst keine urtümlichen Naturlandschaften mehr sind, sondern von Menschenhand geschaffene Kulturlandschaften. Die Herausforderung läge darin, ob wir als Gesellschaft die Kraft finden, uns selber zu beschränken und alle partikulare Profitinteressen hintenan zu stellen. Träumen erlaubt.

Hier in Irland gibt es noch viele Landschaften, die nicht unter dem Druck menschlicher Aktivität stehen. Ich habe selber bis vor wenigen Jahren Menschen in kleinen Gruppen auf möglichst behutsame Art an solche Orte geführt – und trotz „Minimal Impact “ und „Leave no Trace“ den Druck dort selber erhöht. Menschen kehren an Orte zurück, die Ihnen gefallen haben. Sie erzählen es weiter, bringen andere Menschen mit, werben für Landschaften, die gar nicht beworben werden wollen. Der Tourismus neigt systemisch dazu, seine eigenen Grundlagen zu ruinieren. Er präsentiert das Besondere, das Einzigartige, das Sehenswerte so lange und so oft, bis es im besten Fall gewöhnlich geworden, im schlechtesten Fall zerstört ist.

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Auf Komoot und ähnlichen Navigations-Plattformen werden heute global die hintersten Winkel, Pfade, Täler oder Uferabschnitte im Internet öffentlich und leicht zugänglich gemacht. Die digitale Landkarte wird tagtäglich mit tausenden neuen Routenvorschlägen übermalt, das Territorium darf sich fürchten. Das Smartphone weiß, wo es lang geht. Zeitschriften und Onlinemedien posaunen ihre „Geheimtipps“ heraus und machen aus stillen Orten Rummelplätze. Die Entzauberung der Welt ist längst in den Mikrokosmos der letzten Refugien vorgedrungen. Es ist schwer kalkulierbar, wohin und worauf sich die Aufmerksamkeit morgen lenken wird. Vor einigen Jahren entstanden wie aus dem Nichts an irischen Stränden und in den Bergen in Windeseile neue Fußpfade. Sie begannen an einer Straße und endeten im Nichts. Im Fastnichts. Geocacher hatten an willkürlichen Stellen in der Landschaft ihre „Schätze“ für die GPS-Schnitzeljagd versteckt. Auch wenn die Vorstellung von einem bestimmten Ort in die Wahrnehmungszone aufmerksamkeitsstarker Instagram-UnternehmerInnen gerät, kann es mit der Ruhe schnell zu Ende sein. Die Hoffnung: Wellen kommen, Wellen verebben.

Eine der faszinierendsten Küstenlandschaften Irlands wurde vor der Pandemie nur von den Wellen, dem Atlantikwind und ein paar Kühen besucht. In den zwei Jahren, in denen wir Inselmenschen fast nur im eigenen Land reisen durften, hat sich das grundlegend geändert. Die einzigartige Felsenküste avanvcierte in den sozialen Medien, vor allem auf Instagram, zum Renner. Plötzlich stürmten täglich Besucherscharen das Naturwunder. Die verzweifelten Eigentümer befürchteten, das Gelände künftig absperren zu müssen, weil sie für das gefährliche Terrain keinen Versicherungsschutz bekamen. Doch der Spuk war schnell vorbei. Seit die Masken fielen, reisen die nach Sonne lechzenden Einheimischen wieder in den brutzelnden Süden.

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So viele konträre Gedanken, die Eindeutigkeit nicht zulassen und Gewissheit verhindern. Es ist kompliziert. Komplizierter noch . . .

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Seelenorte: Sind das Orte mit einer Seele? Einem Spiritus Loci? Oder Orte, an denen unsere Seelen mit uns und mit dem Ort kommunizieren? Oder sind es Orte, auf die unsere Seelen ihre Sehnsüchte projizieren? Der Seelenort, auf neudeutsch Soul Place, ist zu allererst eine Marketingchiffre, die Reisefieber und Sehnsucht nach dem besonderen Ort nähren soll. Damit sich Menschen vorübergehend von ihrem angestammten Ort, an dem sie leben und arbeiten, auf die Reise begeben, um den herbeigesehnten Seelenort zu be-suchen. Was aber, wenn wir dort ankommen und ihn nicht finden, wenn wir weder unsere Seele noch die Seele des Ortes spüren, also im Grund nichts tief erleben und nichts erfahren? Dann öffnen wir unseren inneren Baukasten der leeren Emotions-Hülsen und sagen Sätze wie: „Mein Gott, ist das schön“ – ersatzweise, mystisch, romantisch, mythisch, unfassbar, wunderschön.

Der irische Natur-Philosoph John Moriarty hat uns illusionsfrei darauf hingewiesen, dass wir moderne Menschen verarmte, seelen-vergessene Wesen sind, hypnotisiert von Rationalismus, Materialismus und sogenannter Wissenschaftlichkeit. Wir haben unsere Seele verdrängt und vergessen. Wir können alles und jedes mit unsäglicher Lust erklären und verstehen doch nicht. Moriartys gute Nachricht: Wir haben unsere Seelen nur verdrängt, zurück gelassen, aber nicht verloren. Wir können sie wieder entdecken und eine neue Beziehung zur Welt aufbauen – eine Beziehung, die auf Respekt für das Heilige und das Mysterium basiert und den Menschen aus seinem selbst geschaffenen Gefängnis befreit.

Wir müssen dafür „nur“ unsere Wahrnehmung ändern: vom Sehen zum Erblicken, zum Schauen. Wir brauchen dazu nicht an besondere Orte reisen oder auf besondere Zeiten warten. Wir verändern unsere Wahrnehmung im Alltag, im ganz gewöhnlichen Alltag, an unserem Ort – und möglichst ab sofort. (Mehr zu John Moriartys Gedanken finden Sie hier).

Wenn wir den Weg der Seele gehen und unsere Seele wieder finden, wenn Mensch und nicht-menschliche Natur sich versöhnen, dann wird für John Moriarty jeder Ort zum Seelenort – und die Zerstörung der Erde endet.

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Noch radikaler dachte der indische Redner Krishnamurti. Wir können dieses denken und jenes fordern, während die Wirklichkeit macht, was sie will. Der Philosoph der geistigen Freiheit kam deshalb zur radikalen Einsicht: „Es ist mir egal, was geschieht“.  No method, no guru, no teacher: Die Wahrheit sei ein unwegsames Land, zu dem es keine festen Wege gibt, sagte Krishnamurti. Hehre Tugenden sind eher schädlich, Idealisten sind gefährlich und können die Welt nicht verbessern. Die Freiheit liegt jenseits von Ideen und Idealen. Wem dies eine Spur zu abgehoben ist, kann es mit dem Münchner Humoristen Karl Valentin sagen: „Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.“

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Der Tourismus ist der Regen. Wir Menschen sind der Regen. Wir werden uns nicht von Flug-Verboten, Besuchs-Geboten oder nicht-gedruckten Büchern aufhalten lassen.

Der Weg zur Seele ist der Weg. Vielleicht der einzige, der uns bleibt.

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