Schon wieder Besuch. Zur Zeit klopft es unvermutet oft an der Haustür. Wenn ich öffne, erwarten mich meist zwei, drei oder gar vier angespannte Gesichter von Menschen mit kleinen Flyern in den Händen. Es ist Wahlkampfzeit in Irland und die Kandidaten für die Lokalparlamente touren auf Stimmenfang über Land. Am Freitag kommender Woche, am 7. Juni, ist Wahltag. Hier in West Cork wählen wir die Grafschaftsräte für das künftige Regionalparlament im fernen Cork, das Cork County Council – und obendrein unsere politischen Vertreter im neuen Europaparlament in Brüssel.
Während die Wahlkämpfe zum irischen Parlament längst mit modernen Mitteln und weitgehend medial, online und in den unsozialen Medien geführt werden, gilt bei den Lokalwahlen noch immer die persönliche Begegnung als schärfste Waffe des Canvassing. Die Kandidaten klappern wochenlang Haus für Haus ab, schütteln Hände, überreichen Broschüren, erklären ihre politischen Anliegen, machen Versprechungen und bitten um Stimmen. Die Zahl der Frauen, die in die Lokalparlamente einziehen wollen, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten landesweit von gut zehn Prozent auf immerhin fast ein Drittel aller Kandidaten gestiegen.
Gestern diskutierte ich mit Farmers-Frau Helen
So diskutierte ich gestern mit Helen, einer freundlichen Farmers-Frau aus einem Nachbartal, die lokale Politik – von den Schlaglöchern in den Straßen, über die kollabierende Infrastruktur bis zu den von der EU gegängelten heimischen Fischern und Farmern. Helen hat die Schnauze von der Brüsseler Agrarpolitik, wie sie sagt, gestrichen voll und will sich künftig im Lokalparlament in Cork als Unabhängige Luft verschaffen. Ich fragte Helen, ob ihr Auto es unbeschadet den löchrigen Kilometer von der Hauptstraße zu unserem Haus geschafft hat? Früher einmal haben die Arbeitstrupps des Cork County Council dieses Sträßchen gut gepflegt, ausgebessert und regelmäßig die Straßenränder gemäht.
Als im Herbst 2008 über Nacht die große Wirtschaftskrise im Land einsetzte und der Keltische Tiger plötzlich und erwartet starb, erklärte sich die Lokalverwaltung proaktiv für bankrott und zog sich flugs aus der Unterhaltung der Grafschafts-Straßen zurück. Seitdem müssen die Anlieger die Bürde des Mähens und Schneidens selber tragen, dürfen aber trotzdem jedes Jahr eine ordentliche dreistellige Summe Haussteuer an die Verwaltung überweisen – und warten auf das unwahrscheinliche Comeback der Lokalverwaltung (nicht, dass ich sie vermissen würde, aber so etwas wie Straßenbeleuchtung, eine öffentliche Wasserversorgung oder einen Abwasserkanal kennen wir hier auch nicht). Helen stimmt mir, wie alle ihre Vorredner, hundert Prozent zu: Wir haben natürlich ein Menschenrecht auf ordentliche Straßen. Niemand soll hier in einem schafsgroßen Schlagloch verenden müssen.
Vorgestern klopfte die Frau eines altgedienten Fianna Fail-Politikers aus dem Nachbarort an. Danny will es nach einer längeren Polit-Pause noch einmal wissen – und weil es ihn nur einmal gibt und der Tag auch am irischen Atlantik nur 24 Stunden hat, schickt er Ehefrau, Kinder, Neffen und Nichten zum Klinkenputzen. Im Umkreis der Kandidatinnen und Kandidaten bleibt kaum jemand verschont: Brüder und Schwestern, Cousins und Cousinen jeglichen Grades, Freunde und gute Nachbarn werden ins Rennen um Stimmen geschickt.
Wahlkampfzeit ist die Zeit der großen Versprechungen. Die Kandidaten und ihre verwandten Avatare gehen jetzt großzügig mit Versprechen, mit Ankündigungen und Absichtserklärungen um. Man fühlt sich als Wähler respektiert, wahrgenommen und wohlig umworben. Die Wählerflüsterei perfektioniert hat ein bekannter Politik-Clan aus Kilgarvan, jenseits der Berge im benachbarten Kerry. Die Healy-Raes schicken in diesem Jahr wieder die halbe Familie als Kandidaten in die Wahlschlacht. Längst müssen die Enkelsöhne und -töchter des 2014 verstorbenen Patriarchen Jackie Healy-Rae ran, um die Familienmacht auszubauen. Sie gerieren sich als unabhängige Volkstribune – Vater und Onkel im Dail in Dublin, die Kinder Jackie, Johnny und Maura in den Lokalparlamenten von Castleisland, Kenmare und Killarney. Von hunderten Wahlplakaten herunter flüstern die Healy-Raes jedem Einzelnen von uns alles-versprechend ins Ohr: I’m on your side – Ich bin auf Deiner Seite. Wenn ich eines dieser Wahlplakate sehe, lese ich immer: „Ich bin auf meiner Seite“ – und freue mich, dass ich in Kerry nicht wählen muss.
Kuchenessen macht mehr Sinn als Politisieren
Als deutscher Europäer darf ich immerhin an den irischen Wahlen zum Lokal- und zum Europa-Parlament teilnehmen. Wenn allerdings in wenigen Monaten ein neues Abgeordnetenhaus in Dublin und damit eine neue irische Regierung gewählt wird, muss ich auch nach 24 Jahren zuhause bleiben. 24 Jahre hier leben, arbeiten, Steuern zahlen, und mitarbeiten in Vereinen und Umweltinitiativen helfen nichts: Das Europa der Wirtschaft und der Finanzen hat bis heute nicht vorgesehen, dass sich die Menschen als wirkliche Europäer wahrnehmen dürfen und das uneingeschränkte Wahlrecht an dem Ort genießen, an dem sie leben und für den sie Verantwortung übernehmen. Seit Jahren sinniere ich, ob sich ein Gang vor die Gerichte lohnen würde, um dieses Recht für Irinnen in Deutschland, für Deutsche in Griechenland, für Polen in Irland – und für mich hier zu erstreiten. Ich sollte es den Kandidatinnen an der Haustür erzählen.
Gerade klopft es wieder, der Hund bellt und kündigt Clan-Fremde an. Ich will schon auf Wahlkampf-Empfangsmodus stellen, als ich erkenne: Es ist Hannah, die 80-jährige Farmers-Witwe von nebenan. Sie wird nicht kandidieren und mich auch nicht von der politischen Durchlagkraft eines nahen Verwandten überzeugen. Wahlkampf hat Pause. Hannah bringt Apfeltorte. Kuchenessen macht in diesen Zeiten mehr Sinn als Politisieren. Vor allem ist es besser für die Nerven.
Ich versuche mir auszumalen, wem ich am Freitag kommender Woche meine Stimme geben könnte: Helen oder Danny, Patrick Gerard oder Finbarr, Colum oder Patrick, Chris oder Mary Lou, Caroline, Danny 2 oder etwa Liz? Selten war ich so ratlos wie heute, nie politisch heimatloser. Sie alle wollen, dass die Show so weiter geht wie bisher, nur ein bisschen mehr nach ihrer Vorstellung. Vor allem aber mehr: mehr Straßen, mehr Häuser, mehr Arbeit, mehr Windräder, mehr Fischfang, mehr Touristen, mehr Kreuzfahrtschiffe, mehr Wohlstand, mehr Profit, mehr Mehr.
Mein Freund, der Baum, steht nicht auf dem Stimmzettel
John Moriarty, der weise Gärtner und Philosoph vom Mangerton Mountain (1938 – 2007), schrieb einmal, dass es gleichgültig ist, ob nun dieser Clan oder jener die Macht ausübt, ob diese oder jene Partei regiert. Solange wir es nicht schaffen, für uns Menschen eine völlig andere, eine neue große Story zu kreieren, solange wir uns weiter nur um uns selbst drehen, solange wir kein tiefes Verständnis für das ökumenische Zusammenleben von Pflanzen, Tieren und Menschen-Tieren auf diesem Planeten entwickeln: Solange rasen wir weiter auf abschüssiger Fahrt der Auslöschung sämtlichen Lebens auf unserer schönen Erde entgegen. Moriarty schwebte eine utopische Lebensgemeinschaft vor, wie sie in ferner Vergangenheit existiert haben könnte. Er nannte sie nach einem vorgeschichtlichen Mythos Birdreign, die Herrschaft der Vögel.
Am 7. Juni sind Wahlen in Irland. Mein Freund, der Baum, steht wieder nicht auf dem Stimmzettel. Für meine Freunde, den Fuchs, den Spatz und das Eichhörnchen, hat kein Wahlkämpfer an meine Tür geklopft. Ob Maura Healy-Rae auf unserer Seite wäre?
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Fotos: Markus Bäuchle
Herrlicher Artikel. Vor 14 Tagen endete unser Irland Urlaub in Kerry, es waren wieder wundervolle Tage, und Johnny war immer an unserer Seite:-)
So ein guter Artikel! Lieber Markus, ich danke dir für diese Insights in das Leben in West Cork. Zeitnah, hautnah, naturnah.
Sicherlich werden hier- und dortzulande die Wahlen beeinflusst, so dass es langsam fraglich ist, noch zur Wahl zu schreiten. Besonders, wenn ihr keine Möglichkeit habt, die Landes- Regierung zu wählen. Mehr mehr Meer! sagte der Wal. Und so kam die große Flut …
Mensch lasst doch die Politik und helft mir ein großes Stück Land günstig zu erwerben, für ein Nonprofitprojekt…Agroforst, Wald und co…dann bekommt ihr die Ansiedlung einer Firma, Touristen, die Bäume pflanzen, Nahrung, die nicht importiert werden muss und ein Plätzchen für Autoren, die mal in Ruhe etwas zuende bringen wollen, in einer Jurte ohne jeden Luxus, wo man sich das Steak auf einem Gaskocher selber machen muss und die man nicht mit dem Auto anfahren kann.
Ein Konzept mit Sinn und Verstand, das sofort umgesetzt wird, ohne groß Gelaber !
Ich brauch nur das Land ! Bergig, verwüstet, steinig weitab im Nirgendwo im Nordwesten oder Südosten und mal nicht am Meer ! Anja