Wir beginnen zu verstehen, dass wir, die sogenannten Zivilisierten, die Wilden und die Wüsten sind — und wir müssen uns gleichzeitig entschuldigend vor den Wilden verbeugen, weil wir ihren Namen genauso beschmutzen wie wir die Natur und unseren Lebensraum auf der Erde verschmutzen. Die beiden Fotos aus Südamerika machen die Umwertung der Werte und der Worte auf einen Blick deutlich: Hier der nicht-zivilisierte Mensch = wilde Ureinwohner, und dort der sogenannte zivilisierte Mensch, ich, Du, unsere Freunde, Nachbarn. Doch wo ist hier und wo dort?
Es gab eine Zeit, da haben die „Zivilisierten“ und die Kolonialisten die „edlen Wilden“ gefeiert — ein wenig wie seltene Tiere. Die Möglichkeit aber, Zivilisation als Entwicklung zum Schutz alles Lebendigen zu begreifen, blieb ungenutzt auf der Strecke, genauso wie die Wildnis als Lebensraum der Wilden und wie der Lebensraum für uns.
Die alten Wilden sind weitgehend verschwunden. Wir neuen Wilden haben die Welt eingerissen und bis an den Rand der Erlebbarkeit zerstört. Heute sehnen wir uns nach der Rückkehr der Wildnis. Wir beginnen zu verstehen, dass wir nur an der Oberfläche Kultur und Zivilisation sind. Wir tragen sie wie bunte Funktionskleidung aus Mikrofaser (schnell trocknend und atmungsaktiv). Wie dick mag diese kulturelle Schicht sein, wie tief darunter liegt der alte Wilde in uns verborgen? Manche sagen, maximal drei bis vier Tage dick sei diese Schicht.
Wir „Zivilisierten“ beginnen zu verstehen, dass wir lange in der falschen Richtung unterwegs waren. Wir rufen nach der Rückkehr der Wildnis. Selbst die Politiker in Brüssel schlagen die Trommel für die Wildnis und kündigen an, bis zum Jahr 2020 in Europa eine Million Hektar Land an die Wildnis zurückzugeben und Wildnis werden zu lassen. In Irland soll ein einsamer Landstrich im County Mayo uneingeschränkt an die Natur zurück gegeben werden: das Territorium um die Nephin Beg Range nannte der irische Naturalist Robert Lloyd Praeger im Jahr 1938 „the lonliest place“ , also den einsamsten oder abgeschiedensten Ort Irlands.
Einsam allerdings kann ein Ort nur dann sein, wenn sich ein Einsamer dort von der Zivilisation und gleichzeitig von der Wildnis getrennt erlebt. Oder würde sich ein Ort jemals einsam fühlen? Fördern und feiern wir die Wildnis als Selbstzweck, als die Rückkehr der Bedeutung, des Maßes, der existentiellen Tiefe, auch in uns. Suchen wir die Wildnis in uns. . .
Fotos: Acorda Cidadão! Movimento de Cidadania e Politização, Brasilien (oben); Markus Bäuchle (unten)
Ja, wir Menschen sitzen alle im gleichen Boot namens Erde, aus dem wir lebend nicht flüchten können. Nimmt das Boot Schaden, geht das für uns nicht ohne Folgen ab. Eigentlich einfach und folgerichtig. Wenn dann noch welche, die zufällig vorne (was ist vorne?) sitzen, glauben sie könnten sich davon etwas ableiten, sind Sandkastenspiele an der Tagesordnung. Wann werden wir endlich erwachsen und übernehmen Verantwortung für alles, was in diesem Boot passiert?
Ich gehe in kleinen Schritten, aber ich gehe… habe die rosa Brille abgesetzt und meine Augen schmerzen deshalb öfter, ich will es aushalten… und tun, was ich kann. Es ist vielleicht wenig, aber es ist mehr als nichts…
Unter wild würde ich jetzt mal ungezähmt verstehen, etwas, was nicht beherrschbar scheint, sich der Kontrolle entzieht. Ich glaube, es ist einfach sehr, sehr viel Angst da, bei uns „Zivilisierten“, vor der Kraft der Natur. Mit ihr zu sein, sie zu erkennen, mit ihr zusammen zu arbeiten, sie zu achten und zu ehren, das ist uns weitgehend abhanden gekommen, was die Angst nicht eben verkleinern kann. ich glaube aber, dass wir bewusst die Verbindung suchen können und auch nach und nach etwas finden können, das uns nährt und stärkt und unsere Angst kleiner werden lässt. Die Kraft der Elemente spüren war für mich ein Anfang. Oft eine Herausforderung für so ein Stadtkind, langsam muss ich es immer wieder erleben…
Dieser Text hat viel Stoff zum nachdenken…
Grüße auf die *wilde* Insel :-)
Elisabeth