Wir haben es gewusst. Vor ein paar Tagen fiel mir beim Entrümpeln eine Broschüre aus den 70-Jahren in die Hände. Geschrieben hatte sie der Theologe Jörg Zink mit dem Titel “Die Welt hat noch eine Zukunft”. Ich erinnerte mich schlagartig, wie dieses dünne Bändchen mich vor fast 50 Jahren völlig schockierte und aus der Fassung brachte. In seinem Text “Die letzten sieben Tage der Schöpfung”  malte Jörg Zink eine fürchterliche Prophezeiung: Die Zerstörung allen Lebens auf der Erde durch die Menschheit. In jenem Konfirmanden- Jahr nach dem ersten Bericht des Club of  Rome und der ersten Ölkrise konnten wir schon recht gut erahnen, was wir anrichten würden. . . . Zinks Apokalypse ging so:

 

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
Aber nach vielen Jahrmillionen war der Mensch endlich klug genug. Er sprach: Wer redet hier von Gott? Ich nehme meine Zukunft selbst in die Hand. Er nahm sie, und es begannen die letzten sieben Tage der Erde.

Am zweiten Tage
starben die Fische in den Industriegewässern, die Vögel am Pulver aus der chemischen Fabrik, das den Raupen bestimmt war, die Feldhasen an den Bleiwolken von der Straße, die Schoßhunde an der schönen roten Farbe der Wurst, die Heringe am Öl auf dem Meer und an dem Müll auf dem Grunde des Ozeans. Denn der Müll war aktiv.

. . . . .

Am siebten Tage
war Ruhe. Endlich. Die Erde war wüst und leer, und es war finster über den Rissen und Spalten, die in der trockenen Erdrinde aufgesprungen waren. Und der Geist des Menschen irrlichterte als Totengespenst über dem Chaos. Tief unten in der Hölle aber erzählte man sich die spannende Geschichte von dem Menschen, der seine Zukunft in die Hand nahm, und das Gelächter dröhnte hinauf bis zu den Chören der Engel.

 

Jörg Zink schrieb diesen prophetischen Abgesang auf das Leben auf der Erde bereits im Jahr 1970. Er publizierte ihn übrigens, weil er Hoffnung hatte und aufrütteln wollte.  ( Den ganzen Text kann man hier online nachlesen). Die zügel- und maßlosen neoliberalen Wachstumsjahrzehnte lagen damals noch vor uns – und doch wussten wir schon Bescheid. Ob der politisch engagierte evangelische Theologe, Autor  und Friedensaktivist (1922 – 2016) heute noch Hoffnung hätte, oder zumindest Zweck-Optimismus?

 

* * *

 

Die Erde ist längst eine andere. An unserem Verhalten geändert aber hat sich nicht viel. Seit den 70er Jahren hat die Zerstörung des Biosphäre Erde massiv zugenommen, die Lebensbedingungen sind dramatisch schlechter geworden. Viele Tier- und Pflanzenarten sind bereits ausgerottet, nur die Zahl der Menschen nimmt noch immer zu. Die menschengemachte tote Materie (“Zivilisation”) wiegt nun erstmals schwerer als die Biomasse der Erde**. Die Klimakrise verschärft die Lebensbedingungen für Tiere, Pflanzen und Menschen vielerorts auf der Erde.

In der vergangenen Woche warnte eine Gruppe von 17 international renommierten Wissenschaftlern*, dass uns auf der Erde eine grässliche und grausame Zukunft bevor steht. Mal wieder, denke ich. Die Experten warnen. Wenn wir nicht endlich konsequent handeln und das Leben und Wirtschaften auf unserem Planeten global, systematisch und konsequent ändern, droht uns das, was man früher die Apokalypse genannt hat.

Die Zerstörung der natürlichen Welt und die Klimakrise stellen die Menschheit vor riesige Probleme. Wie aber soll eine Lösung aussehen?  Wir haben als Menschheit die Dringlichkeit der Lage noch immer nicht begriffen und machen trotz aller Zielformulierungen und trotz aller Konferenz-Ergebnisse und Regierungs-Beschlüsse einfach weiter so. Die Zerstörung geht unverdrossen weiter. Es wird viel geredet und die Ziele werden verfehlt. Es werden neue Ziele formuliert, und die Zeit für die Umsetzung wird zunehmend knapp.

Gut, die Pandemie bremst uns gerade ein wenig aus. Aber der Wachstumswahn ist nicht gebrochen. Als agierten sie in Paralleluniversen beschwören Regierende weltweit das künftige Wachstum nach der Pandemie, anstatt  endlich die Systemfrage zu stellen und den Umbau unserer Wirtschaftssysteme anzugehen: Der globale Kapitalismus muss nicht nur gezähmt werden, er muss künftig an der kurzen Leine geführt werden. Müsste . . .

Die 17 besorgten Wissenschaftler hatten die Schlagzeilen für einen halben, mancherorts für einen ganzen Tag. Dann waren wieder allerorts Trump und Corona angesagt – vergleichsweise kleine Probleme.

 

 

Der Guardian* schreibt über den neuerlichen Weckruf der Wissenschaftler, die für ihr Statement 150 relevante Studien ausgewertet haben (Auszüge):

Der Planet steht vor einer “grässlichen Zukunft mit Massenaussterben, abnehmender Gesundheit und klimatischen Umwälzungen”, die das Überleben der Menschheit aufgrund von Ignoranz und Untätigkeit bedrohen, so eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern, die davor warnen, dass die Menschen die Dringlichkeit der Biodiversitäts- und Klimakrise noch immer nicht begriffen haben.

Die 17 Experten, darunter Prof. Paul Ehrlich von der Stanford University, Autor des Buches “The Population Bomb”, und Wissenschaftler aus Mexiko, Australien und den USA, sagen, dass der Planet in einem viel schlimmeren Zustand ist, als die meisten Menschen – sogar Wissenschaftler – verstanden haben.

“Das Ausmaß der Bedrohungen für die Biosphäre und all ihre Lebensformen – einschließlich der Menschheit – ist in der Tat so groß, dass es selbst für gut informierte Experten schwer zu begreifen ist”, schreiben sie in einem Bericht in Frontiers in Conservation Science, der sich auf mehr als 150 Studien bezieht, die die größten ökologischen Herausforderungen der Welt beschreiben.

Die Verzögerung zwischen der Zerstörung der natürlichen Welt und den Auswirkungen dieser Handlungen bedeutet, dass die Menschen nicht erkennen, wie groß das Problem ist, argumentiert das Papier. “[Der] Mainstream hat Schwierigkeiten, das Ausmaß dieses Verlustes zu begreifen, trotz der stetigen Erosion der Struktur der menschlichen Zivilisation.”

Der Bericht warnt, dass klimabedingte Massenmigrationen, weitere Pandemien und Konflikte um Ressourcen unausweichlich sein werden, wenn nicht dringend etwas unternommen wird.

“Unser Bericht ist kein Aufruf zur Kapitulation – wir wollen den Verantwortlichen eine realistische ‘kalte Dusche’ über den Zustand des Planeten geben, die für die Planung zur Vermeidung einer grauenvollen Zukunft unerlässlich ist”, heißt es weiter.

Der Umgang mit dem enormen Problem erfordert weitreichende Veränderungen des globalen Kapitalismus, der Bildung und der Gleichberechtigung, heißt es in dem Papier. Dazu gehöre die Abschaffung der Idee des immerwährenden Wirtschaftswachstums, die korrekte Bepreisung von externen Umwelteffekten, die Beendigung der Nutzung fossiler Brennstoffe, die Eindämmung der Lobbyarbeit von Unternehmen und die Stärkung von Frauen, so die Forscher.

Der Bericht kommt Monate, nachdem die Welt das UN-Biodiversitätsziel von Aichi verfehlt hat, das geschaffen wurde, um die Zerstörung der natürlichen Welt einzudämmen. Es ist das zweite Mal in Folge, dass Regierungen ihre Zehn-Jahres-Ziele für die biologische Vielfalt nicht erreicht haben. Diese Woche verpflichtete sich eine Koalition von mehr als 50 Ländern, fast ein Drittel des Planeten bis 2030 zu schützen.

. . .

Studien-Co-Autor Paul Ehrlich sagte dem Guardian: “Der Wachstumswahn ist die tödliche Zivilisationskrankheit – sie muss durch Kampagnen ersetzt werden, die Gerechtigkeit und Wohlbefinden zu den Zielen der Gesellschaft machen – und nicht den Konsum von noch mehr Junk.”

Große Bevölkerungen und ihr anhaltendes Wachstum treiben die Bodendegradation und den Verlust der Artenvielfalt voran, warnt das neue Papier. “Mehr Menschen bedeutet, dass mehr synthetische Verbindungen und gefährliche Wegwerfkunststoffe hergestellt werden, von denen viele zur wachsenden Vergiftung der Erde beitragen. Es erhöht auch die Wahrscheinlichkeit von Pandemien, die eine immer verzweifeltere Jagd nach knappen Ressourcen anheizen.”

Die Auswirkungen des Klimanotstandes sind offensichtlicher als der Verlust der Artenvielfalt, aber dennoch versagt die Gesellschaft bei der Reduzierung der Emissionen, argumentiert das Papier. Wenn die Menschen das Ausmaß der Krise verstehen würden, könnten Änderungen in der Politik dem Ernst der Bedrohung entsprechen.

“Unser Hauptargument ist, dass, sobald man das Ausmaß und die Unmittelbarkeit des Problems erkannt hat, klar wird, dass wir viel mehr brauchen als individuelle Aktionen wie weniger Plastik zu benutzen, weniger Fleisch zu essen oder weniger zu fliegen. Unser Punkt ist, dass wir große systematische Veränderungen brauchen, und zwar schnell”, sagte Professor Daniel Blumstein von der University of California Los Angeles, der die Studie mitverfasst hat, dem Guardian.

 

Ich bin ein großer Fan von individuell verantwortungsvollem Handeln. Es ist richtig, das zu tun, was man selber als richtig erkannt hat, es ist notwendig, die Ambivalenz von Werten und Verhalten zu überwinden. Erkenntnis- und Werte-geleitetes Handeln gibt unseren politischen Forderungen noch mehr Legitimität. Dennoch weisen die 17 Wissenschaftler auf das Kernproblem unseres anhaltenden Scheitern hin: Wir kommen mit individuellen Aktionen wie weniger Plastik zu benutzen, weniger Fleisch zu essen oder weniger zu fliegen, nicht weiter. Wir benötigen große systematische Veränderungen, und das schnell und global. Die systematische Zerstörung durch das destruktive Wirtschaften muss beendet, die weniger als 200 globalen Großverschmutzer müssen zur Verantwortung gezogen werden. Die Regierungen müssen zum Handeln gezwungen werden – und das sogenannte “grüne Wachstum” muss als Lebenslüge unserer Generation entlarvt werden.

Sonst wird der rebellische Pfarrer mit dem prophetischen Blick Recht behalten: “Am siebten Tage war Ruhe. Endlich. Die Erde war wüst und leer, und es war finster . . . ”

 

 

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* Der Aufruf der 17 Wissenschaftler kann mit Verweis auf alle zitierten Studien hier nachgelesen werden.
Hier geht es zum zitierten Beitrag im Guardian (Übersetzung der Auszüge mit Hilfe von deepl.com)

** Die menschengemachte tote Materie auf der Erde ist im Jahr 2020 erstmals größer gewesen als die Biomasse. Das Gewicht von Zement, Asphalt, Plastik, Stahl und Mauersteinen wiegt erstmals schwerer als die Masse der lebenden Materie auf dem Planeten. Wie viele Elefanten mag unser Haus aufwiegen?

Fotos: Broschüre des Kreuz-Verlags (6. Auflage). Vom Verlag Kreuz gibt es Bücher von Jörg Zink direkt hier.