This story / page is available in: English


John Moriarty in Irlandnews

 

In der neuen Folge unserer Serie über den irischen Philosophen, Schriftsteller, Dichter und Mystiker John Moriarty erläutert Amanda Carmody das Werk ihres Onkels. Sie erzählt, wie es ihr selber in schwerer Zeit geholfen hat und was es Menschen geben kann, die weder irisch noch christlich sind. 

Wir haben Amanda gebeten, für Irlandnews über John Moriarty zu schreiben – um diesen tiefgründigen Denker einem breiteren deutschsprachigen Publikum näher zu bringen. Heute erklärt Amanda, wie man sich seinem Werk am besten nähert – einem Werk, das 18 Jahre nach seinem Tod aktueller denn je ist. John Moriarty sah den Zustand unseres Planeten, unsere vielfältigen Krisen, als in uns selbst abgebildet und gegenwärtig. Sein Credo: Alles ist miteinander verwandt – Menschen, Tiere, Pflanzen und sogar Steine – und wir sollen in Einklang miteinander leben. Unsere schöne Erde ist das wahre Paradies – wir müssen nur lernen, sie als solches zu erkennen. Lesen Sie,warum Amanda empfiehlt, nicht rein intellektuell mit dem Kopf an John Moriartys Werk zu gehen, sondern es tief in der Seele wirken zu lassen.

 

Amanda Carmody

Amanda Carmody und ihre Mutter Phyllis, die Schwester von John Moriarty. Amanda ist eine Nichte von John Moriarty, eine Tochter seiner jüngsten Schwester Phyllis. Sie verbrachte die ersten Jahre ihres Lebens auf dem Anwesen der Moriartys in Leitrim Hill. Ihre Verbindung zu John begann bei seinen Besuchen in der Heimat und vertiefte sich in späteren Jahren, als er zurückkehrte, um an der Seite des Mangerton Mountain in der Nähe von Killarney zu leben. Seit seinem Tod hat sie sich in sein Schreiben vertieft. Amanda leitet eine sehr aktive Facebook Community Gruppe, die sich mit den Weisheitslehren von John Moriarty beschäftigt.

Amanda, das Lesen von John Moriartys Büchern hat dir selbst durch schwierige Zeiten geholfen . . .

 

„Ich habe in meinem eigenen Leben sehr schwierige Zeiten durchgemacht. Einige davon waren, als John noch lebte, und das bedeutete, dass ich nach Killarney fahren und mit ihm sprechen konnte, seinen Rat und seine Unterstützung bekam. Das tat ich sowohl nach der Trennung meiner Ehe, als auch als bei meiner jüngsten Tochter Autismus und eine geistige Behinderung diagnostiziert wurden, ebenso als bei meinem Vater ein bösartiger Gehirntumor festgestellt wurde.

Erst nach Johns Tod begann ich, seine Bücher richtig zu lesen. Ich dachte, ich würde es ein Jahr lang versuchen – kaum ahnte ich, dass ich 20 Jahre später nicht nur immer noch lese, sondern nach wie vor neue Entdeckungen und Erkenntnisse mache. Die Bücher und Aufnahmen sind ein neuer Zugang zu Johns Weisheit, und so begleitet und inspiriert John mich weiterhin. Ich bin herausgefordert, tiefer zu graben und trotz aller Schwierigkeiten wirklich zu leben. In den letzten Jahren haben meine Familie und ich große Verluste erlitten, darüber spreche ich in diesem Ausschnitt von der Buchpräsentation von ‚John Moriarty – Grounded in Story‘ im vergangenen Jahr (siehe Video unten).

Es hilft, daran zu glauben, dass gewöhnliche Ereignisse in unserem alltäglichen Leben nicht bedeutungslos sind und dass unsere eigenen Geschichten im großen Zusammenhang zählen. Vielleicht ist es mein bescheidener Versuch, selbst zu einer großen Geschichte zu werden, zu einer heiligen Geschichte. Es hilft mir zu sehen, dass Leben und Tod ein Geheimnis sind, dass unser Dasein hier ein Geheimnis bleibt und dass das, was wir zwischen den Türen der Geburt und des Todes sind, nicht die ganze Geschichte ist.

Es hilft, zu hören, wie John uns bestätigt, dass auch das, was wir soziologisch sind, nicht das Ganze ist; dass es vielleicht etwas wahrhaft Königliches in jedem von uns gibt. Ich glaube John Moriarty, weil er selbst Kämpfe durchlebt hat und aus der Tiefe eigener Erfahrung spricht und nicht nur mit dem Verstand. Wie tröstlich ist es, zu erkennen, dass wir uns ständig entfalten und über uns hinauswachsen, und wie inspirierend, zu begreifen, dass wir, wie Flüsse und Berge, von Natur aus großartig krumm sind. Und selbst wenn es sich nicht immer so anfühlt, wir strömen fortwährend der Wiedereinmündung in den große Ozean entgegen.


Dies ist Teil 7 der Irlandnews-Serie über John Moriarty
:: English Translation: Klick
:: Die ganze Geschichte über John Moriarty und alle Teile dieser Serie finden Sie hier: Klick


Es hilft, zu erkennen, dass es auf der tiefsten Ebene keine Trennung gibt; auf der tiefsten Ebene ist der Ozean in der Welle enthalten. Es tut auch gut zu wissen, dass es natürlich ist, nach Schutz zu suchen, und dass es nährt, in Gebet, Meditation und Gemeinschaft Geborgenheit zu finden. Das heißt selbstverständlich nicht, dass wir auf unserem Weg kein Trauma, keine Trauer, keinen Schmerz und keine Traurigkeit erfahren – aber es heißt, dass darunter, auf der Ebene der Seele, im gegenwärtigen Moment keine Trennung besteht. Nenne es Glauben, nenne es Hingabe – ich weiß es nicht; ich weiß nur, dass Etiketten nicht so wichtig sind. Wissen anzuhäufen ist viel weniger wichtig als offen und empfänglich zu bleiben für die Quelle allen Wissens, den frischen offenen Blick. Mir gefällt der Gedanke, dass wir, wenn wir unsere Prägungen ablegen und uns dem Neuen öffnen, den Wunderkindern in uns begegnen, dass wir dann das Staunen und die Seele in der Welt um uns wahrnehmen. John sagt:

„Was für eine geistige und seelische Armut ist es, für alles Erklärungen zu haben. Was für eine Armut von Geist und Herz ist es, niemals vor den Dingen in ihrer ewigen Unerklärbarkeit zu stehen.“

Vielleicht lässt sich noch sagen: Was für eine Armut ist es, nie vor der Lebenserfahrung in ihrer ewigen Unerklärbarkeit zu verharren. In schwierigen Lebensphasen brauchen wir die Inspiration großer Weisheitslehrer, die uns sagen können: „Im Mikrokosmos unserer Seele gibt es Nachrichten vom Makrokosmos.“ Je reicher wir in uns selbst sind, desto reicher ist unser Bewusstsein für das Universum. Was wir in uns selbst erreichen, das erreichen wir auch im Universum. Finden wir zur Seele in uns, finden wir zur Seele im Universum.

„Vertrauen wir der Weisheit des Universums, dann können wir mit Bergen und Flüssen träumen, dann können wir uns mit der sich wandelnden Erde verändern. Die Frage ist also, und es ist eine Frage, die ich Euch stelle“, sagt John: „Könnt ihr Euch auf dem Weg verändern, wenn er sich verändert, könnt ihr auf dem Weg wachsen, wenn er wächst?“

 

 

Amanda, was gibt dir Hoffnung, dass die Menschheit den Weg zurück zur Heilung unseres schönen Planeten noch findet?

In Dreamtime zitiert John Victor Hugo: „Es gibt etwas, das stärker ist als alle Armeen der Welt, und das ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Das macht Hoffnung, denn es bedeutet, dass eine Veränderung der Sichtweise – wenn sie Wurzeln schlägt – alles verändern kann. Das Problem, so wie ich es sehe, ist, dass dieser Wandel außerordentlich langsam zu erfolgen scheint. Die Denkweise von ständigem wirtschaftlichem Wachstum, von Konsum und Kommerzialisierung ist nach wie vor die vorherrschende in der westlichen Kultur.

Wenn, wie John sagt, die Menschheit nicht im Einklang mit der Natur ist und dieses Aus-dem-Takt-Sein eine große Krankheit ist, dann ist das Bewusstwerden darüber ein erster wichtiger Schritt, um zu entdecken, wie wir mit der Natur in Resonanz kommen können. Es ist der Beginn einer Reise, die Heimkehr bedeutet. Sind wir mit der Natur in uns selbst im Einklang, werden wir auch mit der Natur in der Welt im Einklang sein sein. Das ist eine Verschiebung in unserem Hören, Sehen und Wahrnehmen – wir können es Erwachen, Sich-Öffnen oder mit John die Wahrnehmung mit dem Silberzweig nennen.

Ich glaube, es ist noch möglich, John sagt uns: Es ist immer möglich.

„Unsere Anfänge tragen wir immer bei uns. . . Wir müssen den Anfang atmen. Wir müssen mit den allerersten Regungen menschlicher und universeller Vorstellungskraft unterwegs sein.“

„Obwohl wir in einer Welt leben, die vom Ende träumt, die immer kurz davor scheint aufzugeben, besteht etwas, das das Ende nicht anerkennt, darauf, dass wir immer wieder neu beginnen.“ – Brendan Kennelly

Wie John Moriarty hoffe ich, dass unsere Spezies noch nicht zu weit gegangen ist. Deshalb nannte John die Erde Buddh Gaia (Erleuchtete Erde) und forderte uns auf, aktive Mitgestalter zu sein, indem wir Stellung beziehen als Buddh-Gaianer. Das klingt radikal, doch tatsächlich spiegelt es die Sichtweise vieler indigener Kulturen wider, die die Erde als heilig betrachteten und sie entsprechend ehrten.

 


JOHN MORIARTY – HINTERGRUND-INFO

John Moriarty war ein irischer Schriftsteller und Philosoph, der für seine tiefgründigen Einsichten und seine mystische Sicht auf das moderne Leben bekannt war. Er wurde am 2. Februar 1938 in der Grafschaft Kerry geboren und starb dort am 1. Juni 2007. John Moriarty war kein Philosoph europäischer Denktraditionen. Er dachte, meditierte und lebte die Überwindung der Trennung von Mensch und nichtmenschlicher Natur. Er war zugleich Mystiker, Mythenforscher, Geschichtenerzähler und Schamane. John Moriarty lebte ein ungewöhnliches Leben und hinterließ ein reichhaltiges Werk, das uns tiefe Einblicke in die Conditio Humana, über das drohende Scheitern des Spezies Mensch und über mögliche Auswege aus der Sackgasse gibt, in der wir uns heute befinden.

Ziel dieser Serie über John Moriarty ist es, sein Leben und Werk im deutschsprachigen Kulturraum bekannt zu machen. Wer uns dabei unterstützen will, ist willkommen. Email bitte an info@irlandnews.com. Wer würde gerne einzelne Vorträge übersetzen? Wir suchen auch einen Verleger, der es wagt, John Moriartys Bücher endlich in deutscher Sprache zu publizieren.

Weitere Informationen über John Moriarty und sein Gesamtwerk in englischer Sprache finden Sie hier:

* Amanda Carmody betreibt eine sehr aktive Facebook-Gruppe mit täglichen Beiträgen über John Moriarty. Weil es für einen guten Zweck ist, hier – als Ausnahme von unserer Politik – ein Link von Irlandnews zu der John Moriarty Facebook-Gruppe. Klicken Sie auf .

* Die Website des John Moriarty Institute: www.johnmoriarty.ie.

* The Lilliput Press: John Moriartys Bücher (bisher alle auf Englisch) werden von dem irischen Verlag The Lilliput Press in Dublin veröffentlicht. Einen guten Überblick über Johns Bücher und Hörbücher erhalten Sie auf der Website des Verlags.

 


 

Amanda, dürfen wir uns John Moriarty als einen glücklichen Menschen vorstellen?

Eine ungewöhnliche Frage, die mich darüber nachdenken lässt, wie John von Menschen wahrgenommen wird, die ihn nie persönlich erlebt haben. Ich habe John als glücklichen, humorvollen und hoffnungsvollen Menschen kennengelernt. In seinen Gesprächen war er meist energiegeladen und optimistisch. Ja, John machte sich große Sorgen um den Weg, den die Menschheit eingeschlagen hatte, und um das Wohlergehen allen Lebens auf der Erde – und das war für ihn eine Quelle von Schmerz und Kummer.

Doch es ist so: Wenn wir Traurigkeit, Schmerz und auch Ärger nicht empfinden, wird sich nichts in uns verändern – wir machen einfach weiter wie bisher, ohne innezuhalten und nachzudenken oder wirklich zu fühlen. John hatte das Bedürfnis, etwas zu tun, voranzugehen und Alarm zu schlagen. Dabei war er stets hoffnungsvoll, dass Wandel und Heilung möglich sind. John hatte großes Vertrauen und Glauben in die Menschen, weit weniger jedoch in Systeme. Er sah die Hoffnung in den Händen kleiner, engagierter Gemeinschaften, nicht in Organisationen und schon gar nicht in Industrien. Er schrieb:

„Was wir jetzt auf Erden brauchen, ist, dass eine kritische Anzahl Menschen den pestähnlichen Lärm unserer Zeit verlässt und sich zurückzieht in kleine klösterliche Gemeinschaften, jede mit ihrer eigenen Glocke, die sie zum Einklang mit Stern und Stein ruft, zum Einklang in Choral und Stille. Dann könnte unser Planet vielleicht eine Chance haben.“

Ich weiß, dass Glück nicht Johns Lebensziel war. Er war, was er war – manchmal war er glücklich, manchmal voller Verzweiflung, manchmal überschwänglich, manchmal niedergeschlagen, und oft, wenn ich ihn besuchte, gehörte auch das Gelächter dazu.

 

Amanda, kann Johns Werk auch für Menschen von Bedeutung sein, die weder irisch noch christlich sind?

John erzählt dieses Gleichnis:

„Da ist die Geschichte von einem Mann, der am Westen verzweifelte. Er ging in den Osten und lebte jahrelang in einem Zen-Kloster. Als er zurückkam, überreichte ihm sein Lehrer, ein großer Meister, am Flughafen ein Geschenk. Im Flugzeug, kurz vor dem Abflug, packte der junge Mann das Präsent aus – zu seiner großen Überraschung und Verärgerung war es eine äußerst schön gebundene Bibel. Der Meister sagte ihm: Finde es in deiner eigenen Tradition.“

Die Botschaft des Gleichnisses ist: Was immer du in der Ferne suchst, du kannst es auch dort finden, wo du bist, in deiner eigenen Tradition. Es gab eine Zeit in Johns Leben, in der er versucht hat, sich vollkommen aus der christlichen Tradition heraus zu taufen. Viele Menschen können sich heute damit identifizieren – viele von uns, die als Kinder ins Christentum hineingetauft wurden, verspüren irgendwann das Bedürfnis, aus dieser Religion auszusteigen, die ihnen nicht mehr entspricht.

John Moriarty kam nach Connemara, um seine Buschseele zu finden. Er hatte das überwältigende Bedürfnis, sich von den Fesseln einer konditionierten Weltsicht zu befreien, die ihn auf seiner Suche nach tieferem Sinn nicht mehr nährte.

Die Geschichte, mit der er aufgewachsen und gebildet worden war, wies ihm keinen Weg mehr und bot keine Orientierung für seine Suche nach Bedeutung und Sinn. Eines Tages, draußen im Moor, legte er sich in die Spur eines Hasen und wollte seine ganze europäische Bildung aus sich heraus saugen, so wie ein Wickelverband Eiter aus einer Wunde ziehen kann. John hoffte, damit die Türen der Wahrnehmung zu reinigen und die Welt wieder mit den kindlich-offenen Augen voller Staunen und Möglichkeiten zu sehen. Er begann sogar, sich rituell aus der christlichen Taufe herauszulösen – doch etwas hielt ihn davon ab, das letzte Ritual zu vollenden.

John hatte Erinnerungen an frühe kindliche, rein natürliche Erlebnisse, bevor die religiöse Erziehung begann. Er erinnerte sich, wie er als Vier- oder Fünfjähriger zum ersten Mal bemerkte, dass zwischen den Tieren im Stall und den Menschen im Wohnhaus eine Kluft bestand, und dass auch in religiöser Hinsicht das Wir und die Anderen herrschte. In Nostos schreibt er:

„Weihnachten fand nicht in den Ställen statt. Weihnachten fand nicht bei den Tieren statt. Die Tiere wurden ausgeschlossen. Und weil die Tiere ausgeschlossen wurden, war auch ich – irgendwo in mir – ausgeschlossen.“

John hatte als Kind einige schöne Erfahrungen in der Kirche gemacht. Er verstand den Wert von Lobpreis und Sakrament, den Wert, Teil einer Gemeinde zu sein, die zusammen kommt, um zu beten und zu feiern. In Johns früher Erfahrung gab es zwei Kalender: den natürlichen Lauf der Jahreszeiten und den liturgischen Kalender. Doch als er siebzehn war, kam der Tag, an dem sich die Geschichte, die ihm in Kirche und Schule beigebracht wurde, unversöhnlich mit seiner Bildung kreuzte. Das war eine zutiefst verstörende Erfahrung für ihn. Es geschah, nachdem er ein damals in Irland verbotenes Exemplar von Darwins Buch Der Ursprung der Arten erhalten hatte. Er benutzt die Sprache des Schiffbruchs: In Nostos schreibt er, dass er aus seiner Geschichte herausfiel, orientierungslos war, sich wie auf offener See fühlte – völlig erschüttert und allein. John war während seiner Studienzeit ein Atheist, doch das stillte sein Verlangen nicht. Er begann, östliche Philosophien, indigene Glaubenssysteme und die Weltreligionen und Philosophien zu erforschen.

 

John Moriarty Torc Mounatian

 

John verbrachte viel Zeit mit Meditation in der Natur, als er unter den Bergen und Flüssen von Connemara lebte. Eines Tages hatte er auf dem Berg ein Erlebnis, das ihn buchstäblich überwältigte. In Nostos versucht er, das Wesen dieser Erfahrung zu erklären:

„Manchmal war ich schwer getroffen. Aber ich kam zurecht – obwohl ich zunächst nicht wusste, ob ich damit zurecht kommen würde. Es ist eine Sache, sich in einem unendlichen Universum wiederzufinden, das weder Zentrum noch Umfang hat – es ist eine ganz andere, wenn dieses Universum verschwindet, wie eine Fata Morgana, und einen in der Leere zurücklässt.

In meinem Fall – es erschien mir fast sündhaft, das zu behaupten, wie eine umgekehrte luziferische Hybris – aber ich hatte es erlebt: Ich war hindurch gelassen, nicht in den Himmel, sondern in eine Leere, ohne Sterne und ohne Vater.

Ich war in Niemandsland, nein, ich war in Niemands-Nichts, zwischen einer verlorenen Welt und einem nicht gefundenen Gott . . .

Bislang hatte ich als Literaturlehrer und als jemand, der durch christliche Kunst mit dem Christentum in Kontakt geblieben war, mit dem christlichen Mythos gespielt – mit ihm gespielt, so wie ich mit anderen Mythen spielte. Aber nun zeigte der Mythos seine wahre Gestalt. Er tanzte sich aus seinen besänftigenden Schleiern heraus, ließ mich und Totenschädel unverhüllt sehen. Und ich war nicht groß genug. Und ich kannte kein Gebet, das groß genug gewesen wäre – außer Christus selbst, Christus, erschüttert im Garten Getsemani, Christus, der auf Golgatha in seinen eigenen leeren Totenschädel blickt. Der Schädel ist leer, und der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann, weder außerhalb noch innerhalb.

Das Christentum war wahr, ist wahr – nicht, weil Jesus Gott ist; vielleicht ist er der einzige wahre, inkarnierte Gott – aber nicht deswegen ist das Christentum wahr. Das Christentum ist deshalb wahr, weil Jesus in Getsemani und auf Golgatha eine tiefe Wahrheit über uns und unsere Welt gelebt hat, sie sichtbar gemacht hat. Er hat sie gelebt und sie hat ihn gelebt. Er ist in die Ölpresse*, die Gedanken-Presse gegangen – die alles ans Licht bringt. Sie offenbart alles unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung, alles, was wir sind. Sie bringt alles ans Licht, was Nietzsche in sich entdeckt hat …

Ich habe in wenigen Stunden viel gelernt. Nur, es war kein Lernen.

Es war einfach Sehen. Heute am Berg wurde ich ins Sehen erschüttert. Und es war nicht mit meinen Augen, dass ich sah. Ich sah es mit dem, was von mir noch übrig war. Überrascht, fast verlegen lächelnd: Ich war ein Christ. Nicht wieder ein Christ. Ich war das erste Mal Christ.“

[ * Anmerkung der Redaktion: Die Ölpresse im Ölberg von Getsemani steht für äußersten Druck, Leiden und Innerlichkeit. Sie wird als Bild verwendet für die seelische und körperliche Qual Jesu, der im Gebet im Garten Getsemani wie in einer Presse alle Ängste und Schmerzen der Welt „ausgepresst“ werden. Das Öl, das entsteht, gilt als Symbol für Heil, Licht, Segen und Opfer. Im übertragenen Sinn beschreibt die Ölpresse von Getsemani sowohl Jesu inneres Ringen als auch die Leiden alles Menschlichen : Seelenqual, ultimative Hingabe – und die Transformation des Leidens in etwas Kostbares.]

Es war deshalb nicht das Christentum, das John in North Kerry als Kind gelernt hatte, zu dem er zurückkehrte, sondern zu Christus als Pionier, zu Christus als lebendiger Erfahrung. Dieser Weg war der christliche mystische Pfad, und es waren die Mystiker, die für ihn nun Sinn ergaben und ihm einen Weg nach vorne zeigten. Ich glaube, dass wir  erst wirklich wissen, ob wir religiös sind oder nicht, wenn wir mit einer Katastrophe konfrontiert wird. „Im Gegensatz zu D.H. Lawrence glaube ich, dass sich das Unternehmen Christentum noch nicht erschöpft hat“, schreibt er in Slí na Fírinne:

„Aber das ist kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Wie ich es sehe, sind nicht nur die christlichen Kirchen in Schwierigkeiten. Das Christentum als Erzählung ist in Schwierigkeiten. Es steckt in Schwierigkeiten in seinen Bildern und in seinen Metaphern. Und auch wenn es mich quält, das zu sagen, steckt es wohl sogar in seinem zentralen Ritual, der Eucharistie, in Schwierigkeiten.

Wenn wir die Diagnose nicht richtig stellen, werden wir kaum das richtige Heilmittel finden.

Christus, der unter uns weiter wächst und über uns hinaus wächst, ist das Heilmittel. Er und unsere Bereitschaft, mit ihm weiter zu wachsen und hinaus zu wachsen. Das Leben Christi unter uns endete nicht am Himmelfahrtstag. Die dreiunddreißig Jahre Christi auf Erden sind nicht die ganze Geschichte seines Lebens.“

Für John ist dies nicht das Ende des christlichen Abenteuers, sondern vielmehr der Anfang. Er greift immer wieder die biblische Szene auf, in der Jesus den Kedron überquert, und sieht darin ein Symbol für den Aufbruch in die mystische Entwicklung, wie Jesus sie vorgelebt hat. Es ist etwas, das man selbst durchlebt, nicht etwas, das gepredigt werden kann. John verstand diesen Weg als natürliche spirituelle Entwicklung, die zu ihrer Zeit von selbst geschieht – wie die Pubertät beim Menschen oder die Metamorphose bei Insekten:

„Im September, voll ausgewachsen, kriecht eine Raupe einen Baum empor. Sie spinnt einen Kokon und befestigt ihn am Stamm. Die Farbgebung des Kokons entspricht genau der des Stamms. Keine hungrige Amsel oder Drossel wird ihn entdecken. Im Innern vollzieht die Raupe einen seltsamen Prozess. Sie wird aufgelöst – oder besser: sie wird von einer Ahnung des Neuen, eines neuen Wachsens, in sich selbst ‘kannibalisiert’. Die Raupe ist weder Architekt noch Bauleiter oder Oberaufseher dieses Wachstums. Sie versucht in keiner Weise, es zu lenken oder zu gestalten. Das Wachsen ist seine eigene Weisheit – und an einem schönen Tag im Juni öffnet und schließt ein Schmetterling seine Flügel an der mit Rosen bewachsenen Mauer eines Häuschens.‘“

John Moriarty Mantra

 

Viel mehr geht es darum, wie die Geschichte Jesu unser Leben im gegenwärtigen Augenblick berührt, und wie sie die Welt beeinflusst, in der wir leben. Es kommt darauf an, ob wir uns selbst herausfordern können, wach und aufmerksam zu bleiben, während wir die Phasen spiritueller Pubertät durchlaufen – diese Phasen, die Gethsemane, Golgatha und der Garten des Grabes genannt werden, in der mystischen Erfahrung, die den Kern aller spirituellen Traditionen bildet, so auch das Herz des Christentums, so wie John es erlebte – die Erfahrung eines Christus, der nicht in eine bestimmte Religion, Institution oder Organisation eingezwängt war. In Nostos schreibt John:

„Ich hielt meinen nicht so wichtigen Kopf in meinen, etymologisch sich erinnernden Händen und – leise überwältigt in einen Zustand stillen Staunens versetzt – sah ich, dass ich den Rest meines Lebens damit verbringen würde, zu versuchen, die christliche Geschichte zu erzählen.

Selbst wenn das Christentum von der Erde verschwände und kein Christ mehr übrig bliebe, müsste ich dennoch versuchen, sie zu erzählen.“

Dies ist die letzte Strophe eines Gedichts, das John In Buddhas Fußspuren nannte:

„Aber ich könnte dem Tod sagen:
Ich habe dich geliebt und so
Reiche ich tiefer als Deine Sense.
Ich könnte Christus sogar sagen,
Obwohl ich ganz Körper bin,
Ganz Second-Hand-Kopf:
Ich bin wieder christlich,
Aber ich habe meinen Geist geöffnet,
Ich habe meine Tore geöffnet,
Vor langer Zeit, für Gottes Pferde.’“

Der mystische Weg steht Menschen aller Glaubensrichtungen offen – und auch denen ohne Glauben. John sagt sogar, dass die Upanishaden und Sutras diesen Weg manchmal klarer vermitteln als die Evangelien.

John sah Black Elk als Beispiel eines Heiligen. Er war Lakota und Christ, und John hielt große Stücke auf ihn. In seinem Buch What the Curlew Said: Nostos Continued  schreibt John Moriarty über Black Elk:

„Ich verstehe ihn als eine neue Art Christ. Ein Christ, der, wie sein Name besagt, ökumenisch mit dem Elch lebt – dem Elch, der für alle Tiere steht, den lebenden wie den ausgestorbenen.
 Ein Christ, der in Ökumene mit dem Blitz lebt.

Ein Christ, der, bevor er zum Christentum konvertierte, seine Rituale mit den Worten beschloss: mitakuye oyasin – das heißt: all meine Verwandten, in anderen Worten: alles, was existiert. Und es mag sein, dass ein Ritual nur dann wirksam ist, wenn es pan-ökumenisch ist, wenn es in und aus allen Dingen, mit und durch alle Dinge geschieht.

Mitakuye oyasin.

Zwei Worte, die das Christentum ökologisch transformieren müssen, um es von der Menschen-Zentriertheit zu reinigen.“

Und schließlich diese Passage aus seinem Buch Anaconda Canoe:

„Manchmal stelle ich mir einen Moses oder einen Jesus vor, einen gewaltigen, starken Jesus, einen urzeitlichen Jesus, einen hochgewachsenen, widerstandsfähigen Menschen, der alleine gewandert ist, der lange Nächte nichts wissend und alleine in den Altamiras und Lascauxs, den Steinzeithölen seines eigenen Unbewussten verbracht hat.

Hochgewachsen und zäh lässt er sich nie abbringen von dem, was sein Herz ersehnt. Er war draußen, hat dort geschlafen, hat geträumt, mit dem Wind, von Bisons und Wildpferden. Ich stelle ihn mir vor – keine Windung seines Geistes, keine Höhle seines Herzens ist von alten oder modernen Imperien dominiert – einen urzeitlichen Jesus, der ohne Vorwarnung in der modernen Welt auftaucht, über die heutige Christenheit hinweg schreitet, hinunter nach Rom, bis zum Papst in seinem Audienzsaal, und zu ihm sagt: Lasst mein Volk ziehen.“

John Moriarty sah Jesus als ein eine lebendige Erfahrung, als eine Geschichte, an der wir teilhaben und in der wir wachsen – als eine Quelle der Weisheit, die unsere eigene Entwicklung im Einklang mit der sich entwickelnden Erde beleben kann. Wie die Franziskaner können wir erwachen und unsere Verwandtschaft mit Bruder Sonne und Schwester Mond erkennen. Unsere bloße Existenz kann zu einem immerwährenden Lobgesang werden.

„Seit Christus den reißenden Strom überschritten hat, ist der Erd-Aufgang kein illusionärer Vorgang mehr, von einem Raumschiff aus gesehen, das den Mond umkreist. Er ist ein wirkliches Ereignis, das mit höchster Heiligkeit und großer Freude gefeiert werden soll.

Die Herausforderung für uns ist es, mit dem Erd-Aufgang aufzusteigen.

Mit ihm moralisch und spirituell aufzusteigen. Das verlangt nach einer radikal neuen Kultur.“

Das ist etwas, was John selbst erfahren hat. Und sein so eigenes Schreiben ist Zeugnis davon, ein Zeugnis, das leuchtet und uns einlädt, für das Wunderbare im Alltäglichen offen zu sein. John sieht das scheinbar Banale immer als Ort des Sakralen: Unsere Bereitschaft, im Alltäglichen zu verweilen und das Schlichte nicht zu fliehen, ist unsere eigentliche, vielleicht unsere endgültige Heiligkeit. Er sagte: „Die Fähigkeit zur Alltäglichkeit ist unsere letzte Heiligkeit.“  John Moriarty lebte ein einfaches und gewöhnliches Leben.

Wer also John Moriarty liest, begibt sich auf eine Pilgerreise, die verändern kann, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen und wie wir mit ihr in Beziehung treten. Ich fühle, dass seine Worte verborgene Anteile in uns nähren, die anerkannt und integriert werden wollen. Ich bin zutiefst überzeugt: Berührt John Moriarty nur deinen Kopf, bleibt es beim bloß intellektuellen Verständnis, dann hast du wenig gewonnen. Die Worte sollen in tieferen Schichten klingen – und wenn das geschieht, befindest du sich vielleicht auf einem Pfad der Selbst-Entdeckung, der Dich in unermessliche Tiefen und große Höhen bringt. Dabei können meine Erfahrung und deine Erfahrung sehr verschieden sein.

 

Die Serie wird fortgesetzt

 

 


Wir freuen uns über Unterstützung

Sie können Irlandnews unterstützen. Diese neue Artikelserie über den irischen Philosophen und Msytiker John Moriarty können Sie kostenlos lesen – ebenso wie alle anderen Geschichten dieses Webmagazins. Sie sind unser Geschenk an Sie. Es gibt keine Paywall und keine ablenkende Werbung. Wir setzen keine kostengünstige künstliche Intelligenz ein. Jede Geschichte wird von Menschen recherchiert und geschrieben.
🤔
Wenn Sie diese Arbeit mögen und schätzen, können Sie uns unterstützen und mit einer Spende helfen, die technischen Kosten – eine jährlich wachsende vierstellige Summe – auszugleichen. Wir sind für jede Geste dankbar. Wenn Ihre Finanzen knapp sind, spenden Sie bitte kein Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihren Talenten. Hier können Sie Ihre Spende machen.


 

Photo credits: Top Collage: Eliane Zimmermann;  Fotos 2 von oben und ganz unten mit freundlicher Genehmigung von Amanda Carmody; Weitere Fotos gibt es auf der Website www.johnmoriarty.ie. Fotos 3 und 4 von oben: Markus Bäuchle

 

 

This story / page is available in: English