Warum eigentlich? Warum wache ich seit mehr als zwei Jahrzehnten jeden Morgen hier auf? Hier an der Ostküste des Nordatlantiks im Süd-Westen Irlands? Ich hatte immer angenommen, wir seien unserem Wunsch gefolgt, in intakter Natur zu leben und sind deshalb an den irischen Atlantik umgezogen.

Das stimmt. Natürlich. Natur. Mich beschäftigt allerdings die Frage nach den Alternativen, die nie Wirklichkeit geworden waren. Warum war ich nicht im Greenwich Village in New York gestrandet? Als Schriftsteller, als Journalist, als Müßiggänger oder arbeitsloser Schallplattenverkäufer vielleicht. Oder als Greenkeeper in Monterey, Kalifornien.

Warum war ich nicht im Schwarzwald geblieben und hatte ein unspektakuläres Dasein ohne große Aufregungen gelebt, nur drei, vier Dörfer entfernt von meinem Geburtsdorf? Warum war ich nicht in einer der deutschen Städten geblieben, die mich nacheinander faszinierten und gleichzeitig quälten: Basel, Heidelberg, Worms, Offenbach, Frankfurt, Hamburg?

Oder München. München. Ich wäre heute ein perfekter Müll-Recycler, ein Freizeit-Barista, ein Park-Fußballer und ein Stadt-Wanderer. Ich würde nicht in die nahen Alpen fahren, nur weil ich es könnte. Ich würde mein grünes Gewissen am grünen Rand der Stadt in einem Passiv-Haus beruhigen, vielleicht. Warum bin ich nicht zurück gekehrt an die Herkunftsorte meiner Vorfahren? Als Streusiedler auf den Hotzenwald, den Wald der Aufsässigen und Freiheitsliebenden. Als Seelen-Schäfer auf die Schwäbische Alb. Als postmoderner Glockengießer in die Dolomitentäler von Welsch-Tirol. Als Amateur-Ruderer und Buchhändler in die Romandie am Genfer See.

Ich wusste keine Antwort und hatte den Drang aufzustehen, etwas zu tun, was ich sonst nie tue: in meinem ersten Buch über Irland noch einmal zu lesen. Das Vorwort. Und tatsächlich verbarg sich in dem vor einigen Jahren flüssig dahin geschriebenen Text ein deutlicher Hinweis auf eine tiefere Bedeutung: Andersartigkeit, die nicht weh tat.

Hier das vollständige Vorwort im Zusammenhang:

Meine persönliche Irland-Story begann im Jahr 1979. Ich hatte die Fiedeln der Horslips und die Gitarrenriffs von Rory Gallagher gehört, zudem Fotos von irischen Landschaften gesehen. Zurück aus dem dechiffrierten Traumreiseziel New York war nun Kontrast-Programm angesagt: Ich fühlte mich magisch angezogen von der kleinen grünen Insel am westlichen Rand Europas. Warum genau blieb unklar, also sah ich nach. Geld war knapp in jenen Tagen, und so reiste ich per Anhalter durch Frankreich, England und Wales nach Irland. Kaum angekommen, nur eine Anhalter-Tour vom Fährhafen von Rosselaire landeinwärts, saß ich schon mittendrin, gemütlich beim Tee mit fremden Menschen, die seltsam freundlich und anteilnehmend sprachen. Um uns herum das weite Land. Elegante Schlichtheit. Schönheit. Eine Natur- und Kulturlandschaft, an der ich mich nicht satt sehen konnte.

Es war die Zeit, als auf den engen Sträßchen Irlands nur wenige Autos verkehrten, als die Menschen auf dem Land noch mit Esel und Karren unterwegs waren, als die Dörfer einen Shop, eine Kirche und eine Polizeistation hatten und die Cottages für 15 000 Mark die Besitzer wechselten. Hier war alles anders als zuhause in Deutschland — und doch so vertraut. Es war wie Liebe auf den ersten Blick. Andersartigkeit, die nicht weh tat.

Der ersten Irland-Reise folgten viele weitere, der träumerische Wunsch, in dieser Idylle einmal zu leben, erfüllte sich als Ergebnis einer subtilen Langzeitprogrammierung 20 Jahre später. Das Internet war angekommen und baute Brücken. Im Jahr 2000 zogen wir um an die Südwestküste Irlands, die Westküste Europas. Die kleine Insel machte sich gerade auf, eine Dauerparty des neuen Wohlstands zu feiern, bald röhrte der Celtic Tiger laut und manchmal ordinär. Der Bauboom wütete, die irische Gesellschaft modernisierte sich im Zeitraffer und mit der Brechstange. Irland kam in der europäischen Gegenwart an und wandelte sich im Rekordtempo. Es war eine Zeit wie ein Dejá vu.

Dann kam 2008 der große Knall: Wirtschaftlicher Zusammenbruch, Stillstand, Rückwärtsbewegung. Vorbei die kurzen fetten Jahre. Arbeitslosigkeit, Not und Mangel kehren zurück, die Welle der Auswanderung rollt wieder. Gleichzeitig erhöht Europa den Anpassungsdruck. Eigenheiten fallen der Gleichmacherei des globalen Wirtschaftens und der Euro-Bürokratie zum Opfer. Wohin ist dieses Land wohl unterwegs? Bei allem Anpassung- und Veränderungsdruck: Irland ist anders geblieben. Dies gilt bis heute. Auch anders, als wir es als Urlauber gesehen hatten. Die persönliche Love Story mit Irland hält an. Es ist wohl eine reifere, erwachsenere Form der Beziehung geworden; doch durch alle Veränderungen hindurch hat sich die Zuneigung zu Land und Leuten erhalten. Hier lässt sich gut leben.

Genau. Hier war alles anders als zuhause in Deutschland — und doch so vertraut. Es war wie Liebe auf den ersten Blick. Andersartigkeit, die nicht weh tat.

 In Deutschland fühlte ich mich oft fremd daheim. An anderen Orten war ich fremd in der Fremde. In Irland aber fühlte und fühle ich mich im Fremden daheim. In der Andersartigkeit am Atlantik, die nicht weh tut, die gut tut, möchte ich tatsächlich auch nach über zwei Jahrzehnten gut und gerne leben  (. . . und ich habe nie Angela Merkel gewählt, die diesen Satz im Jahr 2017 für meine alte Heimat prägte und die sich nun mit Nina Hagen und Roten Rosen den Zapfenstreich blasen lässt).

 

 

Fotos: Markus Bäuchle; Leuchtturm am Sheeps Head, Wald und Wiese in West Cork
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